Page - 309 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

309 November 1872 145 150 155 160 165 170 175 180 185 Frau Wilt ist in der That eine Künstlerin, welche den Ehrentitel einer Mozart-Sän- gerin verdient. Ich habe auf meinen musikalischen Wegen zwei Mozart-Sängerin- nen gefunden; die eine ist, wie gesagt, Frau Wilt, die andere – wer die andere ist, sage ich nicht, damit sich jede Sängerin einbilden könne, sie sei es. Wie die Wilt eine echte Mozart-Sängerin, so ist Julius Epstein ein echter Mozart-Spieler – er führte also den Klavierpart demgemäß aus. Wer hätte aber denken sollen, daß der alte Heinrich Isaak mit seinem „Inspruk, ich muß dich lassen“ beim Publicum fast den Preis davontragen werde? Die Bezeichnung mit der Jahreszahl 1552 im Programm war aber nicht richtig. Heinrich Isaak, von den Italienern Arrigho Tedesco genannt, lebte (schon als berühmter Meister) am Hofe des Lorenzo Magnifico in Florenz, als Musiklehrer der Kinder des Fürsten und zugleich als politischer Geschäftsträger des Kaisers Maximilian I. Nun starb Lorenzo be- kanntlich schon 1492. Später wirkte Isaak als ehrwürdige Musikgröße in Wien, in Maximilians Hofcapelle; eine seiner grandiosesten Motetten: „Virgo prudentissi- ma“ feiert diesen Kaiser und Leo  X. Maximilian starb 1519, Leo 1521. Selbst wenn Isaak ein sehr hohes Alter erreichte, so kann er 1552 nicht mehr am Leben gewesen sein. Isaak bleibt eine der größten Erscheinungen auf dem Gebiete der Musik- geschichte. Wenn man Hans Leo Hasler den „Mann mit dreifacher Krone“ genannt, so verdient Isaak denselben Ehrentitel. Wie der Niederländer Josquin, wie der spätere Orlando Lasso war er musikalischer Kosmopolit. Der feinsten und tiefsten Com- binationen des Niederländer-Styles seiner Zeit in vollendeter Meisterschaft mäch- tig, mit Josquin vermuthlich in Florenz in persönlich freundschaftliche Beziehun- gen getreten, verstand er ebenso den leichtgefügten, eleganten florentinischen Musikstyl der Zeit, wie handschriftliche Gesänge von ihm, die ich in Florenz zu finden so glücklich war, beweisen. Er wurde dann aber auch Vater des deutschen Lieder- und Musikstyles, von dem es in gerader Linie bis Bach und Händel geht – oder er theilt höchstens diese Ehre mit seinen Zeitgenossen Heinrich Finck und Paul Hoffhaymer, welche er übrigens beide hoch überragt. Sein Lied, welches wir hörten (dessen Text nach einer unverbürgten Sage von Maximilian  I. sein soll), gehört der dritten deutschen Richtung. Die Melodie muß dem Meister selbst ge- fallen haben, er hat sie noch einmal, in seiner Missa carminum (Liedermesse) ver- werthet. In Forsters Sammlung (die zweite Auflage ist wohl von 1552?) gedruckt, bekam das innige, treuherzige Scheidelied von protestantischer Seite später einen geistlichen Text, die Melodie lebt in dem vielgesungenen „Nun ruhen alle Wälder“ noch heute im Volksmunde fort. Am begierigsten war ich, zu hören, welche Wir- kung das zwei Mal auftretende sogenannte Fa fictum (der unvermittelte Es-dur- Accord nach dem F-dur-Accord) macht. Prächtig klingt es – unsere moderne Musik hat uns übrigens an Aehnliches gewöhnt. Die neueren „Harmonisirungen“ der Melodie von Schein u. s. w. klingen ordentlich matt nach der Urkraft des contrapunktisch gefügten Isaak’schen Origi- nals. Das Publicum applaudirte jede Strophe und hätte nach der letzten das Lied am liebsten noch einmal gehört. Johannes Eccards Marien-Lied, um ein Jahrhun- dert jünger als Isaaks Composition, ist gar herzig und innig und bezeichnet zu- gleich eine der Stationen, welche das deutsche Lied nach Isaak erreichte.