Page - 321 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

321 November 1872 160 165 170 175 180 185 190 195 200 Stern über diesem ersten Concert. Gleich die ersten Tacte der „Leonoren“-Ouver- ture führten uns in einen Zauberkreis, aus dem uns erst die letzten Tacte der Schumann’schen Symphonie wieder entließen. Von den vier Ouverturen, welche Beethoven für seine erste und einzige Oper schrieb, wurde uns diesmal die zweite – selten gehörte geboten. Insgemein wird ihre Zwillingsschwester, die allbekannte große „Leonoren“-Ouverture vorgezogen, welche Schumann einmal als „himmel- hoch und meerestief“ bezeichnete. Welche aber die größere sei? Das ist für uns andere Leute, die wir tief genug unten im Thale stehen und die Höhe solcher wol- kennahen Gipfel nur mit den Augen messen, schwer genug zu bestimmen. So viel ist sicher: die diesmal aufgeführte Ouverture gleicht einem kühnen ersten Wurfe, die andere ist die meisterhafte Durchbildung der Motive, welche jener kühne Wurf wie auf ein schöpferisches „Werde“ ins Leben gerufen. Das durchgebildetere, voll- endetere, reifere Kunstwerk ist daher ohne Zweifel die dritte Ouverture. Und ein epochemachendes dazu. Denn man kann ohne weiters sagen, daß unsere ganze höhere Instrumentalmusik auf dieses gigantische Werk zurückdeutet (Mendels- sohns Concertouverturen, Schumann u. s. w., sogar aber auch schon C. M. v. Weber u. s. w.) Trotzdem lag sie lange genug vor der Welt da wie eine Sphinx, deren Räthsel niemand zu lösen vermochte. Selbst Cherubini klagte nach dem ersten Hören, „er habe nicht einmal die Tonart dieses Werkes zu erkennen vermocht“ (bei dem ab- sichtlich modulatorisch schwankenden Anfang des Einleitungsadagio kein unbe- greiflicher Ausspruch!), ein Wiener Correspondent des „Morgenblattes“ oder eines ähnlichen Journals ließ den Wahrspruch in die Welt ausgehen: „mit der Ouverture zu Prometheus (!) halte sie keinen Vergleich aus“ – und noch in den dreißiger Jah- ren schrieb ein nicht unleidlicher Kritiker, „Beethoven selbst habe diese originelle, aber schwer verständliche Jugendarbeit (!!) verworfen (!!)“, nämlich weil er später zum theatralischen Hausgebrauch die vierte, wenig bedeutende Ouverture in E schrieb. Aber ist Nummer drei die vollendetste, so bleibt Nummer zwei die kühns- te und genialste, sie hat die unwiderstehlich packende Kraft voraus, die ihr, eben als erstem frischen Wurfe, einen ganz eigenen Vorzug giebt. Es ist wie eine vulca- nische Eruption! Ich muß wenigstens gestehen, daß sie mir diesmal einen weitaus größeren Eindruck gemacht hat als je eine ihrer drei Schwestern. Als Einleitung der Oper wird die erste (fast nie hervorgesuchte) immer den Vorzug haben, Num- mer zwei und drei sind keine Operneinleitungen, sondern selbstständige sympho- nische Dichtungen, zu denen die Oper den Anlaß gab. Nummer zwei erzählt in ergreifend dramatischer Weise – die ganze Handlung des „Fidelio“ kann man da- rin Tact nach Tact verfolgen – die dritte hat einen großen epischen Zug. Wer Cherubini’s Ouverturen kennt, wird nicht ohne Interesse die Anregung erkennen, die sich Beethoven bei diesem von ihm überaus hochgeschätzten Meis- ter geholt. Freilich überragt er ihn wie ein Gigant – indessen darf man „Elisa“, „Les deux journées“, „Medea“ u. s. w. noch immer mit allen Ehren nennen. Unter dem überwältigenden Eindruck der „Leonoren“-Ouverture, zumal bei der wahrhaft vollendeten Ausführung, wie wir sie diesmal hörten, kam nicht einmal Beethoven gegen Beethoven auf, – es dauerte eine gute Weile, ehe ich mich in dem auf die Ouverture folgenden Beethoven’schen Violinconcerte zurechtfand. Abends kam