Page - 332 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

332 November 1872 95 100 105 110 115 120 125 130 135 philosophischen Grundanschauungen) dieser Choral, und was darum und daran hängt, schwerlich viel mehr am Herzen liegen mag als etwa das chinesische Lied „vom Weidenbaum mit Atlasblättern“, aus welchem Weber seine „Turandot“- Ouverture gemacht. Aber Wagner weiß zu gut, daß gewisse Melodien einschlagen und zünden. Und so erscheint er hier so tendenziös, so äußerlich Himmel und Erde in Bewegung setzend und innerlich so künstlerisch unwahr, daß wir es mit der gewohnten künstlerischen Ehrlichkeit Wagners, der wir von jeher wahre Ach- tung zollen mußten, in keiner Weise reimen können. Der Marsch hat uns, offen gesagt, einen geradezu peinlichen Eindruck gemacht. Tonmassen wälzen sich über Tonmassen. Das betäubte Ohr quält sich vergebens ab, ein wirkliches musikali- sches Motiv aus dem Durcheinandertoben der entfesselten Orchesterkräfte heraus- zuhören, – man athmet auf, wenn der lutherische Choral auftaucht und wir einen Augenblick lang eine feste Tongestalt erfassen dürfen. Wagner wollte nicht abermals, wie in seinem „Tannhäuser“-Marsch, in Elsa’s Brautzug, dem „Meistersinger“-Eintritt (drei herrlichen Compositionen!), von dem musikalisch so wirksamen Mittel der allmäligen Steigerung Gebrauch machen, er fängt gleich in einem Style an, der an den Anfang der asiatischen Banise erinnert: „Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des erzürnten Himmels, zerschmettere die Pracht deiner mit Gold gedeckten Thürme“ u. s. w. Wagner, der uns so oft bewiesen hat, er könne erhaben sein, ist hier in einen Schwulst und Bombast gerathen, der eben nichts ist als die Folge und Strafe jener inneren Un- wahrheit des Ganzen. Ohne Uebertreibung darf man sagen, daß der „Kaiser- marsch“ an Lärm Alles überbietet, was wir je gehört. Berlioz’ doch auch eben nicht schüchtern orchestrirter Rakoczy-Marsch ist dagegen völlig eine Musik für Nervenschwache, für Reconvalescenten, für die Leute aus Hallers Alpen, die „bei Flöten einschlafen wollen“. Berlioz componirte den Marsch im Jahre 1846 als Ge- legenheitsstück für seine Concerte in Pest, später „intercalirte“ er ihn unnützer und schädlicher Weise in seiner „Verdammung Fausts“ (verzeihe mir’s der Him- mel, bei einem flüchtigen Blick aufs Programm las ich „Verdummung Fausts“ – der Lesefehler ist zu entschuldigen, wenn man sich erinnert, wie Goethe’s „Faust“ im Libretto des Berlioz’schen Oratoriums zugerichtet ist). Sein „Faust“ fängt, dem Marsch zuliebe, in den „Ebenen Ungarns“ an. „Faust“ in Ungarn! Que diantre avait il de faire à cette galère? Indessen warum nicht? Fausts Mantel war ja bequeme Reisegelegenheit. Abgesehen von diesem späteren Mißgriff ist der Marsch ein höchst anziehendes Stück, wahrhaft genial orchestrirt und in den von Berlioz selbstständig behandelten Partien und Zwischensätzen äußerst interessant. Berlioz schrieb mir damals von Pest aus (den Brief hat mir leider, nebst ähnli- chen Schriftstücken, ein erpichter Autographensammler entführt), wie der Marsch eine ganz außerordentliche Wirkung gemacht: „vor Allem“, hieß es, „haben die Leute über eine Stelle den Kopf verloren, wo die Geigen das Marschmotivpiano in einer Art fugirter Arbeit ausführen, während leise Schläge auf die große Trommel an fernen Kanonendonner mahnen“. Für diese Tonsätze war nun die mächtige Besetzung, mit der wir sie hörten, relativ sehr zweckmäßig, an sich ist es in der That nicht leicht zu bejahen oder zu verneinen, ob das Experiment eines solchen musikalischen Massenaufgebotes und artistischen Landsturmes zu wiederholen