Page - 333 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

333 November 1872 140 145 150 155 160 165 170 175 180 rathsam ist. Daß man in einer Stadt, welche vielleicht die erste Musikstadt der Welt heißen darf, 250 tüchtige Orchestermusiker und aus ihnen ein respectables Orchester zusammenbekommen kann, wird nicht in Erstaunen setzen, man könn- te vielleicht die doppelte Zahl haben. Die ersten Tacte der „Egmont“-Ouverture mit den düsteren, von der Heerschaar von Geigen mit gleichem Ton und Strich gespielten Accorden wirkten höchst imposant, ebenso das Crescendo im triumphi- renden Schlußsatze, aber schon hier wurde das Fortissimo betäubend, folglich un- schön. Auch einem Koloß ist seine Höhe gesetzt und er kann zu groß sein. Die Tonwerke tragen auch das Maß der ihnen angemessenen Besetzung in sich. Eine zu stark besetzte Musik macht einen Eindruck etwa, wie wenn man sein Gesicht im Hohlspiegel besieht; an Stelle der beseelten Bildung glotzt uns gorgo- nenhaft ein Riesengesicht entgegen, das uns desto unangenehmer erscheint, je ver- trauter uns seine Züge sind. Bei Mendelssohns Klavierconcert trat der Mißstand vollends zu Tage. Der von Clara Schumann mit der feinsten Vollendung, mit dem edelsten Geschmack, ganz im Sinne Mendelssohns gespielte Klavierpart wurde zur Nebensache, das Riesenorchester (obschon eine Anzahl Pulte hier „Tacet“ hatte) zur Hauptsache – es war folglich die verkehrte Welt. Das arme Klavier war die Stimme des Rufenden in der Wüste, oder vielmehr des Verirrten im Dickicht des brasilianischen Urwaldes. Fast nahm sich, weil der Contrast gegen das Orchester kein so ausgesprochener war wie beim Klavier, das Mozart’sche Concert für Vio- line und Viola (nach dem Paprika-Gericht des Berlioz’schen Rakoczy-Marsches wahre musikalische Milch frommer Denkungsart) besser aus. Herrn Concertmeis- ter J.  Hellmesberger müssen wir für die äußerst gelungene, von ihm componirte Cadenz oder Doppelcadenz unser besonderes Compliment machen. Die Viola klang in seinen Händen prächtig und Herr Grün wetteiferte mit ihm im buchstäb- lichen Sinne eines „Concertes“, d. i. eines Wettstreites. Das zweite Concert der Frau Clara Schumann und der Frau Amalie Joachim brachte uns zu unserer innigsten Freude Franz Schuberts Klaviersonate in A-moll (es ist unter den mehreren dieser Tonart die dem Erzherzog Rudolf gewidmete). Man kennt die begeisterten Worte, welche einst Robert Schumann gerade über diese Composition schrieb. Eine trefflichere Interpretin konnte sie nicht finden als Clara Schumann. Jede Schönheit der unvergleichlichen, originellen Tondichtung trat uns unter ihren Händen leuchtend entgegen. Bachs Fuge, Chopins Scherzo, die köstliche Gavotte Glucks nach Brahms’ geistvollem Arrangement, welche das Publicum förmlich elektrisirte – wir müßten schon Gesagtes wiederholen. Eigen berührte uns, wie neulich die „Davidsbündler“, so diesmal das Scherzino aus Schumanns „Faschingsschwank“. Wenn wir Compositionen Roberts von Clara vortragen hören, ist es uns immer als dürfe sich eigentlich niemand Anderer unter- fangen, dergleichen auch spielen zu dürfen. Frau Joachim gewinnt in der Werthschätzung des Publicums mehr und mehr Terrain. Ihre Stimme ist äußerst sympathisch und von einem eigen edlen, beseel- ten Klang, doch keine von jenen elementaren Kraft- und Machtstimmen, welche den Hörer sofort durch ihre Wucht überwältigen. Der Liedervortrag ist etwa ana- log der Weise eines trefflichen Vorlesers oder geistvollen, empfindungsvollen Declamators, der die Sachen mit Recht ganz anders nimmt und bringt, als der