Page - 338 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

338 Dezember 1872 60 65 70 75 80 85 90 95 100 und lächeln mitleidig, wenn man es wagt, ihnen von der vierten, achten oder gar von der ersten zu sprechen. Und dennoch ist diese vierte so groß wie eine ihrer acht Schwestern, wenn man die Größe nämlich nicht nach der Elle oder aber nach der Peripherie mißt, bis wohin man die Fortissimos des Werkes hört. Wie die Glieder einer goldenen Kette schließen sich die Sätze dieses wahrhaf- tigen Tongedichtes an und in einander, obschon die Exegeten und Programmma- cher in Verlegenheit um deutende Worte kommen dürften. Allenfalls möchte bei der Einleitung und dem ersten Allegro jener Geisterchor aus „Faust“ passen: „Schwindet ihr dunkeln Wölbungen droben“ u. s. w., und weiter: „Wo wir in Chö- ren Jauchzende hören, wo wir auf Auen Tanzende schauen“ u. s. w. Wie genial faßt Beethoven das Motiv der allmäligen Entwicklung des lebensprühenden Allegro aus nebelhaftem Düster mitten im ersten Allegro nochmals, und anders durchge- führt, auf! Das Adagio, ein breiter Strom von Wohllaut, die Melodiewellen spielen in einander und heben und tragen uns. Beim Menuet wundert es mich, daß noch keiner der zahllosen Beethoven-Commentatoren die rhythmische Doppelrech- nung bemerkt hat, welche ganz consequent durchgeführt ist – zwei Dreiviertel- Tacte geben zusammen je einen Dreizweitel-Tact. Man sehe nur nach! (Im Trio nicht, es tritt um so frappanter ein.) Und was soll man zum Humor des letzten Satzes sagen? Ist’s nicht herrlich, daß der Contrabaß, der sonst die ultima ratio der Harmonie ist, beim zweiten Motiv sich emancipirt und mit den Geigen um die Wette zu singen anfängt? Und ists dann ein Wunder, wenn derselbe Baß nach der Fermate, gegen den Schluß hin, in drolliger Schwerfälligkeit mit den Geigen um die Wette zu laufen beginnt? Ganz zuletzt solls wie mit einem salto mortale über einen Graben gehen – Geige, Fagott, Viola setzen an, aber bleiben verzagt stehen – da nimmt Held Contrabaß einen Anlauf und – hopp – drüben ist er; ein ver- wunderter Aufschrei der übrigen Instrumente begleitet das Heldenstück. Ganz kürzlich hat ein Berliner Feuilleton in Form eines Gespräches, einer Dis- putation zwischen Musikern und Musikfreunden, das Thema verfochten: Musik und Architektur seien gar keine Künste, weil man sich so gar nichts Bestimmtes dabei denken könne, es sei bloßes Formwesen, etwa wie wenn der Gärtner einen Blumen- strauß bindet; wenn Beethoven vom Thema seiner fünften Symphonie ausgerufen: „So pocht das Schicksal an die Pforte“, so könne es eben so gut der Schneider mit ei- ner unbezahlten Rechnung sein u. s. w. Unverbürgten Nachrichten zufolge werden die Herren Iktinos, Erwin von Steinbach und Bramante, vielleicht unter freiwilliger Ver- tretungsleistung der Herren Mozart und Beet hoven, dem Berliner, nach dessen The- orie sie, wie er ausdrücklich sagt, „keine Künstler“ sind, einen Injurienproceß anhän- gen. Eine so herrliche Aufführung einer Beet hoven’schen Symphonie, wie jene der vierten bei uns, und aller ästhetisirende geistreiche Plunder liegt – wo er hingehört. Tags vor dem philharmonischen Concert gab der junge Pianist Herr Luigi Breitner das seine. Trotz des deutschen Zunamens ist er Italiener; sein Lehrer war Rubinstein und er selbst ist ein Künstler von großen, theilweise schon glänzend erfüllten Hoffnungen. Wenigstens was Anschlag, Technik, Bravour betrifft, hat Luigi Breitner nichts mehr zu lernen, er hat ferner Geist und empfindet lebhaft, – was ihm zur Zeit noch mangelt, ist eine ganz geklärte Auffassung. Sein Feuer, selbst seine enorme Technik reißen ihn fort, Alles bekömmt unter seinen Händen