Page - 343 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

343 Dezember 1872 90 95 100 105 110 115 120 125 130 aber hebe er den Blick begeistert zu dem ewigen Himmel und den ewigen Sternen und verkünde, was er dort gelesen. Nein, eine Zeit, welche dergleichen vermag, ist noch keine Zeit des Kunstverfalls! Nur daß die Künstler unserer Epoche nicht so von einem allgemeinen Kunstgeist der Zeit getragen werden wie die früheren. Wünsche, Ansprüche, Ansichten, Geschmacksrichtungen laufen wirr aus einan- der, ja gegen einander. In einem berühmten Chor des Händel’schen „Messias“ heißt es: „all we like sheeps have gone a stray we have turned ev’ry one to his own way“. Das paßt vollkommen, nur daß die musikalischen Parteien im Punkte der Sanft- muth und Geduld keineswegs unter die Species sheep gehören. Das sogenannte „Triumphlied“ von Brahms bildet das Seitenstück oder, wenn man will, Gegenstück zu seinem deutschen Requiem, welches aber keineswegs ein Requiem im kirchlich rituellen Sinne ist, sondern, wie schon gesagt, eine moderne Palingenesie der Kirchencantaten von J.  S. Bach, der übrigens in seiner Cantate „Gottes Zeit ist die beste Zeit“ einen ganz ähnlichen Grundgedanken verfolgt hat. Das Triumphlied ist dagegen gleichsam ein erweitertes Hallelujah, welches Jubel- wort denn auch wirklich immerfort durchklingt. Von den großen Ereignissen der Zeit, die noch in jedermanns Erinnerung sind, freudig angeregt, über ihre Folgen staunend gab Brahms nach Künstler- und Musikerweise dem, was er empfand, durch Musik Ausdruck. Es ist also, wenn man will, Gelegenheitsmusik, aber Ge- legenheitsmusik wie Händels Dettinger Te-Deum. Was kümmert uns heute noch die Bataille bei Dettingen? Aber Händels Werk steht wie in Erz gegossen und monumental für alle Zeiten da. Und so auch das neue Werk von Brahms – das ist ein Monument in Tönen! Den Text dazu hat er dem Lieblingsbuche der ersten Christen, der Apokalypse entlehnt, und zwar dem 19.  Capitel. Besitzt der Leser ein „neues Testament“, so bitte ich ihn das Buch aufzuschlagen und Vers  2 des citirten Capitels zu lesen, von dem Brahms nur die Hälfte, und Vers  3, von dem er gar nichts genommen, oder auch nur die Capitelüberschrift anzusehen, um sofort zu begreifen, durch welche Ideenverbindung unser Tondichter dahin gebracht wor- den sein mag, seinen Text gerade hier zu suchen. Was er wohlweise wegließ, ist so bedeutungsvoll wie das, was er in Musik setzte. Aber auch diese letzteren Stellen sind in ihren Beziehungen so glücklich gewählt und so deutlich, daß schwerlich ein Mensch sich darüber wird täuschen können, was gemeint sei. Der Berliner Verleger der Partitur hat vollends durch geschmackvolle Aus- stattung des Titelblattes dafür gesorgt, daß auch schwächere Ingenia begreifen müssen. Ein Aar schwebt oben – naturhistorisch – zur Sonne, mit über ihm schwe- bender Krone (mir fiel dabei, höchst frevelhafter Weise, eine kleine „Freischütz“- Historie aus dem Theater zu P. ein: als Max den Steinadler schoß, stürzte dieser aus den Soffiten, zugleich mit ihm aber eine Pelzmütze, welche nämlich der Arbeiter, der den ausgestopften Vogel oben hielt und herabwarf, aus Schrecken über den Schuß verlor), unten spreizt sich der Adler – heraldisch – auf einem Schild, zwi- schen so viel Lorbeern, daß man ihn kaum sieht; rechts und links aber dampfen aus Tripoden dicke Weihrauchwolken – nicht zum Himmel, sondern gegen den Aufschwebenden. Brahms denkt etwas anders als der geistreiche Zeichner des Titelblattes, seine musikalischen Weihrauchwolken steigen gerade auf zum Him- mel und werden dort hoffentlich an die richtige Adresse gelangen.