Page - 344 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

344 Dezember 1872 135 140 145 150 155 160 165 170 175 Das nicht lange (was die thatsächliche Dauer betrifft) und dennoch kolossale Ton- werk scheidet sich in drei Abtheilungen. Fast wünschte ich, es wären ihrer vier. Kaum hat uns der Koloß des ersten Chores losgelassen, schreitet der Koloß des zweiten heran. Ein kurzer Sologesang – etwa in reducirter Arienform, würde die beiden machtvollen Nummern zweckmäßig geschieden haben, – sehe man nur ähnliche Dispositionen bei Bach und Händel an! Sehr wohlthuend wirkt denn auch zu Anfang des dritten Theils der Solobaß, der aber sehr bald wieder hinter den Chormassen verschwindet. Die Chöre sind achtstimmig gesetzt – und wie gesetzt! Der Sach- und Fachkundige kann die hier entwickelte Meisterschaft nur bewunderungsvoll anerkennen – zumal in unseren Tagen. Lichtenberg erzählt von einem Engländer, der die Holländer nicht leiden konnte und aus Haß behauptete: sie hätten für ihre Sprache eigentlich gar keine Grammatik, jeder spreche, wie es ihm eben beliebt. Bei der modernen Musik fällt mir wirklich der holländerhassen- de Englishman zuweilen ein. Die Composition von Brahms mit einem einzigen Worte zu charakterisiren: sie ist überwältigend großartig. Näher dem Pindar- Schwung Händels als der Dialektik Bachs verwandt, macht sie gleich beim Eintritt des Vorspieles mit seinen Trompetenfanfaren und regen Figuration der in Terzen auf- und abwogenden Bläser, der antwortenden Saiteninstrumente u. s. w. einen ganz direct an Händels Macht, Pracht und Gewalt erinnernden Eindruck. Nach dem Katarakt des ersten Chores kommt der zweite wie ein ruhiger und breiter wogender Strom. Weiterhin Chor eins und zwei in Vierviertel- und Zwölf- achtel-Tact gegen einander singend; höchst originelle Pizzicati in der Begleitung – ob Brahms dabei an die Harfen der 24 Aeltesten gedacht, die er in der Apokalyp- se auch gefunden? Sehr gut, daß er die wirkliche Harfe verschmäht hat – sie ist zwar auf Malereien das specifische Engelsinstrument, aber für Kirchenmusik nicht „hoffähig“, man denkt (wie in Rossini’s Messe) bei ihr gleich an den Salon – die Großpriesterin unter den Instrumenten ist und bleibt die Orgel. Wunderbar wirkt der Anfang des dritten Theiles – wie der Seher auf Pathmos beginnt der Solobaß: „Und ich sahe den Himmel aufgethan“ u. s. w., – leise und wie von Schauer erfaßt wiederholen beide Chöre nach einander seine Worte. Der „sich öffnende Himmel“ regt den Componisten zu einfacher, aber wirksamer, wohl angebrachter Tonmale- rei an, das „weiße Pferd“ läßt ihm gar eine Triolenfigur aus der Feder gleiten, die, sicher unwillkürlich, abermals Tonmalerei ist; schon das Urpferd in Haydns Schöpfung galopirt in Triolen. Es nimmt sich aber nicht kleinlich, sondern höchst großartig aus. Der Schluß mit seinem in unendlichem Jubel wiederholten Hallelu- jah krönt würdig das Ganze. Ein Berichterstatter und Beurtheiler thut übel, seine persönlichen Eindrücke einzumischen, aber ich kann nicht umhin zu gestehen, daß kein Tonwerk der Neuzeit mir einen gleichen Eindruck gemacht, einen Eindruck, der noch lange in mir nachzitterte. Auch über den Rang, den Brahms unter den Componisten der Jetztzeit einnimmt, glaube ich völlig im Klaren zu sein; – da Gedanken zollfrei sind, so hoffe ich damit nicht anzustoßen. Jüngst hat ein Freund eines der er- gebensten Jünger Wagners für jenen das Wort mit Enthusiasmus genommen und gesagt: es sei wahr, componirt habe er noch nichts, – wenn er componiren wollte wie Brahms, Volkmann, Rubinstein oder andere „Nachtreter Beethovens“, so