Page - 391 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

391 Februar 1873 105 110 115 120 125 130 135 140 145 Schumann hätte den bewunderten und geliebten Schubert am liebsten aus dem Grabe herausgeholt, wenn es möglich gewesen wäre. Vielleicht das Beste und Geistvollste, was über Schubert nicht als gelegentliche Kritik, sondern als gerun- deter und geschlossener Essay gesagt worden, findet sich in den „musikalischen Charakterbildern“ von Otto Gumprecht (Leipzig 1869). Reißmann bringt jetzt ein ganzes Buch, wie er früher eins über Felix Mendels- sohn-Bartholdy und eins über Robert Schumann gebracht, welch letzteres auch schon eine zweite Auflage erlebt und den Autor, gleich der günstigen Aufnahme, welche sein „Lehrbuch der musikalischen Composition“ fand, wohl für den Verdruß entschädigt hat, welche ihm seine „allgemeine Geschichte der Musik“ (München 1863, 1864, 3 Bände) oder eigentlich die Kritik dieses Werkes veranlaßt haben mag, eine Kritik, die in Chrysanders Jahrbüchern sehr scharf, aber leider nicht ungerecht ausfiel; denn Reißmann war allzu leicht und nach zu wenig gründ- lichen Vorarbeiten an die Riesenaufgabe gegangen. Brendel hatte es sich bei seiner Musikgeschichte allerdings noch sehr viel leichter gemacht – er hatte sich die Vor- arbeiten völlig erspart und treu wiederholt, was er in Kiesewetter, Winterfeld und in Kandlers Auszug aus Baini’s „Palestrina“ fix und fertig vorfand. So schrieb er Geschichte! Daß er brillant schrieb und Geist und allgemeine Bildung zeigte, soll nicht geläugnet werden – das Ganze war am Ende doch nur der Prätext zu einem glänzenden Plaidoyer für Wagner, auf welches die „historische“ (?) Darstellung am Ende hinauslief. Gegen dieses von der Parteireclame in den Himmel erhobene, eigentlich völlig werthlose Buch ist Reißmanns geschmähtes völlig ein Monumentalwerk. Indessen fühlte sich Reißmann in den alten Jahrhunderten wirklich nicht recht zu Hause und der Umgang mit den Geistern der Todten, mit Okeghem, Josquin u. s. w., die eine ihm fremd klingende und ihm nur halb verständliche Sprache redeten, war ihm offenbar unheimlich. Desto besser versteht er die Sprache moderner Geister, wie sein Buch über Schumann und sein neuestes über Schubert beweist – Arbei- ten, die ihm alle Ehre machen. Der biographische Theil des Schubert-Buches ist allerdings, wie es nicht wohl anders sein kann, im Wesentlichen eine Paraphrase der Darstellung Kreißle’s; aber eine gut geschriebene, und gegen die Skizzen jenes Vorgängers gehalten, gleichsam das farbig ausgeführte Bild. Auch Bauernfelds Reminiscenzen zu benützen hat Reißmann, wie billig, nicht versäumt. Das Haupt- gewicht legt Reißmann auf die Besprechung der Werke Schuberts und hier können wir seinen geistvollen Auseinandersetzungen, den von ihm entwickelten Kunstan- schauungen und der mit feinem Verständniß gegebenen Charakterisirung Schuberts und seiner Musik mit vollem Antheil folgen. Auch der kritische Fleiß des Autors verdient alle Anerkennung. Recht interes- sant sind die neben einander gestellten Proben aus den Müllerliedern in ihrer eigentlichen und in der von den Schubert protegirenden Sängern „verschönerirten“ Gestalt. Höchst bedeutend durch weite Ausblicke ist das Capitel, dessen wir schon oben flüchtig erwähnten: „Schubert und die Romantik“. Einen für Schubert cha- rakteristischen Zug läßt Reißmann auch bei Besprechung der „Messen“ unbeach- tet, obwohl er nicht nur in diesen, sondern z. B. auch in dem „Stabat Mater“ und auch sonst, nicht bloß in den eigentlichen Kirchenstücken Schuberts, sehr fühlbar