Page - 403 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

403 März 1873 85 90 95 100 105 110 115 120 125 die Hoffnung aus, man dürfe es wohl erwarten, das kürzlich entstandene musika- lische Drama, welches schon jetzt mit so großem Beifalle aufgenommen worden, zu noch weit größerer Vollkommenheit gebracht zu sehen, so daß es sich eines Tages den so sehr gepriesenen Tragödien der alten Griechen nähern könnte. Diese Hoffnung wurde 171 Jahre später durch Glucks „Iphigenia auf Tauris“ glänzend erfüllt. Sie verdient vielleicht, als musikalisch-dramatisches Werk betrachtet, das Vollkommenste zu heißen, was wir überhaupt besitzen. Es ist bemerkenswerth, daß zwei aus jener Trias der Wiedererwecker des griechischen Geistes denselben Stoff, die „Iphigenia auf Tauris“, aufgegriffen haben, der Dichter und der Musiker: Goethe und Gluck. Es wäre schwer, einer ihrer „Iphigenien“, der gedichteten oder der componirten, den Preis zu ertheilen. Goethe selbst hat mit edler Bescheiden- heit in den an die Sängerin Milder gerichteten Versen den Lorbeerkranz vor Gluck niedergelegt. Man möge uns, da wir auch Goethe’s „Iphigenia“ genannt, beiher den flüchti- gen historischen Rückblick gestatten, daß schon vor Gluck der Stoff der euripidi- schen „Iphigenia auf Tauris“ zwei Mal zu Opern im italienisch-vorgluckischen Style verwerthet worden. Leonardo Vinci brachte 1725 auf dem Theater von S.  Giovanni Crisostomo in Venedig eine „Iphigenia“ zur Aufführung, sein letztes und zugleich sein Meisterwerk. Eine Preghiera für Alt: „Delia dea“ würde Gluck nicht schöner componirt haben. Eine zweite, nicht minder treffliche, taurische „Iphigenia“ schrieb Tommaso Traetta 1759 für Wien. Es ist lehrreich, Traetta’s Composition mit jener von Gluck zu vergleichen. Jene freirecitativische Scene bei Gluck, wo Iphigenia von Orest das Schicksal Agamemnons und Klytämnestra’s erfährt, wird bei Traetta zu einem regelmäßigen Duett mit Text- und Melodiewie- derholungen. Eine Parallele zwischen dem Furienchore Glucks und jenem Traetta’s hat schon Heinse und neuerlich B.  A. Marx zu geben versucht. Traetta erschüttert nicht bis ins Mark wie Gluck, aber sein Chor ist wunderbar schön. Hüte man sich, wegen Glucks Reformatoreifers, wie er in den Vorreden der „Alceste“ und des „Paride ed Elena“ laut wird, die frühere italienische Oper für eine undramatische Fratze zu halten! Der Forscher staunt über die großen und echten Schönheiten, welche ihm entgegenleuchten, wenn er die vergilbten Partituren aufschlägt. Unter den Ausführenden nennen wir vor allen Frau Dustmann. Leidenschaft- liche Wärme der Empfindung und ein eigenthümlich aufgeregtes Pathos sind die charakteristischen Kennzeichen der Darstellungsweise der Künstlerin; gerade die- se Eigenheiten, für viele andere Rollen so höchst schätzbar, wollen für Iphigenia nicht recht passen. Man darf bei Glucks Iphigenia, welche singt, zum Unterschie- de der Iphigenia Goethe’s, welche spricht, wohl vergessen, daß letztere von Arkas als „heil’ge Jungfrau“ angeredet wird und daß Goethe beim Anblick einer der stil- len, milden Jungfrauengestalten Raphaels sich vornahm: „seine Iphigenia nichts sagen zu lassen, was jene nicht auch sagen dürfte“, – aber den Grundzug davon muß auch die ideale Priesterjungfrau Glucks behalten. Frau Dustmann war, wie man nach dem Gesagten von selbst einsehen wird, in den Momenten des dritten und vierten Actes, wo Iphigenia leidenschaftlicher aufgeregt ist, allerdings treff- lich, weniger in den beiden ersten Acten. Die Scene der Wahl des Todesopfers war ergreifend und besser, als wir sie je gesehen zu haben uns erinnern, und der vierte