Page - 407 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

407 März 1873 70 75 80 85 90 95 100 105 110 Adolf Müllner, der einst vielgepriesene Dichter der „Schuld“, definirte bekanntlich die Oper als „Rührei von Kunst und Unsinn“. Dieselbe Definition paßt auf das Genre der modernen sogenannten Operette vollkommen, nur muß man die „Kunst“ weglassen und dafür irgendein Wort setzen wie etwa Frivolität, Obscöni- tät, Scandal u. s. w. Arbeiten wie „La timbale d’argent“ oder „Abélard et Heloise“ sind an schamloser Frechheit sicher das Aeußerste, was man seit den Zeiten Theo- dora’s, der Tänzerin und nachmaligen byzantinischen Augusta, auf der Schaubüh- ne gesehen. Es thut endlich einmal ein sehr ernstes Wort noth und es soll uns wahrlich an Muth nicht fehlen, dieses Wort, wo es nöthig wird, zu sprechen! Und so gestehen wir denn, daß wir den „Carneval in Rom“ mit einer Art moralischer und ästhetischer Seekrankheit verlassen haben. Das reizende Stück Sardou’s, welches Herr Joseph Braun seinem Libretto zu Grunde gelegt, ohne es der Mühe werth zu halten, seine Quelle auch nur mit einer Silbe zu nennen, bringt in die Handlung den Rest von Sinn und Zusammenhang, welcher bei dieser Be- arbeitung übrig geblieben – was zu- und beigefügt ist und eigentlich die „pikante Würze“ ausmacht, ist von der Art, daß wir uns hier beim Schreiben ernstlich vor- nehmen müssen, uns möglichst gemäßigt darüber auszudrücken. Die ungenirte Offenheit, die launenhaft lachende Naivetät, mit welcher hier das ehebrecherische Verhältniß zwischen dem jungen Maler Arthur und der Gräfin Falconi als etwas ganz Selbstverständliches, ganz Natürliches, als etwas, das gar nicht anders sein kann, behandelt wird, muß jeden, dem aus den alten Zeiten der „Finsterniß“ und „Geistesknechtung“ noch etwas Scham und Scheu übrig geblieben, einigermaßen außer Fassung setzen. Auch mit dem albernen Gecken Benvenuti hätte die Frau Gräfin im ersten Act eine „Liaison“ angeknüpft, wären der Herr Graf im Eisenbahnwaggon nicht noch eben zu rechter Zeit erwacht. Der Herr Graf, dessen Familienwappen ein Hirsch- geweih im goldenen oder blauen oder rothen Felde ist, tritt mit diesem plastisch in Silber getriebenen Wappenzeichen auf der Mütze, wie Actäon nach der Verwand- lung, auf! In Rom wird die Frau Gräfin in ein Nonnenkloster als Assecuranz- anstalt für ihre Tugend gesteckt. Der Theaterzettel spricht zwar von einem Da- menstift und die Nonnen erscheinen in einem unerhörten rothen Ordenshabit wie gesottene Krebse – aber kein Mensch kann sich auch nur einen Augenblick lang darüber täuschen, was gemeint sei. Das „Damenstift“ hat einen Kapuziner (!!) zum Pförtner – natürlich eine ungeheuerliche Mönchsfratze. Neben dem Kloster ist eine Osteria, wo die „deutschen Maler“ mit ihren „Modellen“, das heißt hier mit Mädchen, welche vor lauter Zweideutigkeit schon völlig unzweideutig sind, eine lärmende Orgie abhalten. Will man Scenen dieses Schlages schildern, so mag es geschehen, wie Hogarth es in einem der Blätter in the rake’s progress gethan. Zudem kann der Kunstfreund, der eben Hogarths Kupferstiche besitzt, sie vor seinen Töchtern und halberwachsenen Söhnen versperren. Aber den Taumel eines wilden Bacchanals, von dem die Grazie zürnend entflohen und wo nur die Mänade übrig geblieben, bei grellem Gaslicht auf offener Bühne dargestellt, während von allen Seiten des Zuschauerraumes her Mädchengesichter gegen die Bühne blicken, und dieses Bacchanal vom Herrn Textverfasser wieder als selbstverständliches, harmloses Amusement tractirt zu sehen, das ist in der That etwas stark. Auch sind