Page - 411 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

411 März 1873 15 20 25 30 35 40 45 50 55 den schroffen Felsenküsten, den düsteren Fjorden Norwegens war eben durch die Landschaftsbilder der Düsseldorfer Maler gar nicht unbedeutend angeregt worden – hier hörte man eine Musik, die mit ihren eigenthümlichen Mitteln ähnliche Stimmungen brachte. Gade’s erste Symphonie schlug ähnliche Töne an, aber in größeren Dimensionen. Als Symphoniestyl genommen, machte ihre Tonsprache den gewinnenden Eindruck, wie ihn die liebenswürdigen, naiven, überall einen tüchtigen, naturfri- schen Kern verrathenden Unbeholfenheiten eines etwa aus Herjedalen oder sonst einem Nordgau kommenden wackern „Naturburschen“ machen würden, der in einen Salon gerathen und welcher dort die Sprache der Conversation mit einem fremden Accent spricht, auch zuweilen den richtigen Ausdruck nicht findet. Es war doch gar zu hübsch, wenn Gade im Final gelehrt zu thun und zu contrapunk- tiren anfing! Der wahrhaft enthusiastische Brief, welchen Mendelssohn damals an Gade schrieb, bleibt ein merkwürdiges Denkmal, mit welcher Wärme man in Leipzig, wo man sonst in Sachen der Musik etwas blasirt ist, den Tonsetzer und sein Werk aufnahm. Die Neuheit dieser Erscheinung überraschte, erfreute, ent- zückte. Aber es scheint beinahe ein Gesetz, daß Tonsetzer, denen die Welt später einen nicht mehr verwelkenden Lorbeer reichen soll, ihre ersten Pfade unter Schmerzen und Mißhandlungen wandern müssen und von den recensirenden und correspondirenden kurzsichtigen und langarmigen Gibbons mancher Musikzei- tungen (mit diesen „Gibbons“ meine ich nicht Verwandte oder Ebenbilder des berühmten Historikers – man suche die Erklärung im Blumenbach) übel mitge- nommen werden; – Gluck, Beethoven und Andere haben es erfahren müssen! Wer umgekehrt den Ruhm und die allgemeine Zustimmung allzu schnell er- reicht, der „sehe, wo er bleibe“. Gade machte diese Erfahrung. Seine zweite Sym- phonie wirkte schon bedenklich abkühlend, seine „schottische Ouverture“ er- schien wie ein schwächerer Nachklang des „Ossian“. Die dritte Symphonie fiel allerdings wieder glücklicher aus; waren aber die rauhen Ecken, wie sie die erste Symphonie zeigte, in Leipzig mittlerweile wegge- schliffen und wegcultivirt worden, so war dafür auch die Urkraft eines originellen Talentes so ziemlich fort. Gade fing an, sich in den musikalischen Phrasen auszu- drücken, welche bei der guten Gesellschaft in Leipzig damals gang und gäbe waren – er fing an, sich „auf Mendelssohnisch“ zu tragen. Von da ist es bergab gegangen. Die vierte Symphonie ist, sagen wir es offen, eine Art musikalischen Kofents – so heißt bekanntlich jenes schwächere, auch „Nachbier“ genannte Ge- tränk, welches bekanntlich dadurch gewonnen wird, daß man, wenn vom Malz bereits einmal Bier abgeschöpft worden, nochmals Wasser aufgießt und ein zwei- tes gewinnt. Am unangenehmsten vielleicht wirkt das Andante, trotz großer instrumenta- ler Feinheiten und eines nicht geringen Aufwandes cantabler Melodie. Gewiß ver- dient, zumal in langsamen Sätzen, kurzathmige Phrasirung kein Lob, aber die entgegengesetzte langathmige, „welche sieben Leinewebern die Seele aus dem Leibe haspeln könnte“, eben so wenig. Für diese Art Cantilene haben wir uns nach Aristophanischen Vorbildern das malende Wort erdacht „Gewandhausedelsinggei- gereien“. Das erste Allegro hat interessante Züge, aber seitenlang meint man keinen