Page - 438 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

438 April 1873 75 80 85 90 95 100 105 110 115 Senfls Zeit fallen? Und wie hat denn Senfls Lehrer Heinrich Isaak ein so großer Meister werden können, wenn es vor Senfl keine festen Regeln des Tonsatzes gab? Von den noch ältern Meistern Dufay, Okeghem, Hobrecht, Busnois u. A. zu schweigen. Von theoretischen Schriften Senfls hat bisher kein Mensch etwas ge- wußt. Daß Glucks „Orfeo“ der deutschen Oper den Weg bahnt, kann doch wohl nur ein lapsus calami sein. Wir haben diese Anfänge bisher bei Benda, Hiller, Schweitzer u. s. w. gesucht. Wir müßten ein Buch über das Buch schreiben, wollten wir alle Corrigenda darin zu Correctis machen. Kleinere Ungenauigkeiten über- gehen wir, wenn Seite 180 der dreißigjährige Krieg von 1619 bis 1648 dauert, was, richtig subtrahirt, neunundzwanzig Jahre ausmacht, u. s. w., u. s. w. Positiven Gehalt aber gewinnt das Buch, wo der Herr Autor aus dem Irrgarten der allgemeinen Musikgeschichte in sein liebes heimisches Mähren zurückkehrt und uns aus den mährischen u. s. w. Archiven unbekannt gewesene Thatsachen bringt. Ueber das Institut der „Thürmer“, so weit diese zugleich Repräsentanten der Musik vorstellen, wird z. B. manches recht Interessante mitgetheilt. Doch ist der patriotische Eifer des Herrn Autors auch hier mitunter über die rechte Grenze gegangen. Wen in aller Welt als etwa einen geborenen Znaimer können die Namen der „Thurmermeister“ an der Nikolaikirche zu Znaim interessiren, oder daß der Trivialschullehrer Franz Wagner, welcher 1811 mit dieser Würde bekleidet wurde, „ein in jeder Beziehung schwacher Mann“ war, oder daß 1822 nach dessen Tode der „Thurmergeselle“ Joseph Hilbich die Stelle „nur provisorisch“ erhielt? Welchen Antheil kann die übrige Welt an dem „Musik- und Gesangverein in Proßnitz“ (S.  65, Anhang), an den „musikalischen Zuständen in Troppau“ (S.  216), an „Znaims musikalischen Verhältnissen in den letzten vier Jahrzehnten“ (S. 217) nehmen? Dankenswerth ist das alphabetische Musikerlexikon, S.  68 bis 194, und Nach- träge bis S.  205. Diese Abtheilung allein schon sichert dem Buche Werth und Brauchbarkeit. Wir begegnen hier einer großen Menge unbekannt gewesener Namen. Sehen wir bei vielen dieser Namen näher zu, was deren Träger geleistet, so werden wir uns allerdings gestehen müssen, daß mitunter recht wenige Verdienste dazu gehört haben, um in dieses Pantheon aufgenommen zu werden. Die Scala, nach welcher diese Verdienste taxirt werden, ist zuweilen etwas seltsam. Wenn wir von Beranek aus Milonitz in Mähren lesen und von dessen „classisch-kirchlichen Compositionen“ und „daß er von den renommirtesten Fachkennern einstimmig (!) als classischer (!) Componist, namentlich in der Kirchenmusik anerkannt sei“, so müssen wir leider gestehen, daß wir ohne diese freundlichen Mittheilungen keine Silbe von der Existenz dieses großen Mannes gewußt hätten. Aber diese ganze Apotheose ist eben wieder mit Hilfe der Papierscheere in das Buch gekommen – sie ist der Wiederabdruck einer Correspondenz aus Welehrad in der „Brünner Zei- tung“ (Jahrgang 1863, Nr.  152). In Welehrad kann jemand allerdings für ein Genie gelten, von dem man in Lundenburg nichts mehr weiß. Die unverändert herübergenommenen Citate ver- schulden überhaupt mancherlei. Es nimmt sich sonderbar aus, wenn es in einem 1873 gedruckten Buche heißt: „Titl, Emil Anton, ein junger Componist, ist 1809 zu Pernstein geboren u. s. w.“ Dieser beneidenswerthen „Jugend“ genießt Titl hier