Page - 524 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

524 Oktober 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 Wenn einer der frühesten Beurtheiler der Eroica meinte: sie sei nicht sowohl eine Symphonie als „eine sehr weit ausgeführte Phantasie, es fehle ihr gar nicht an frap- panten schönen Stellen, sehr oft scheine sie sich aber in das Regellose zu verlieren, des Grellen und Bizarren sei zu viel, wodurch die Uebersicht erschwert wird und die Einheit beinahe ganz verloren geht“, so scheint dieser Mitarbeiter der „Leipzi- ger allgemeinen musikalischen Zeitung“ von Anno 1805 ein wahrer Prophet gewe- sen zu sein, seine Kritik paßt wörtlich und buchstäblich auf Bruckners Symphonie. Bitten möchten wir den Componisten, statt der heiligen Rosalia, zu welcher er seine Andacht zu oft verrichtet, eine andere Heilige zur Patronin zu nehmen, er findet ihrer im Kalender genug. Er ist Professor des Contrapunktes und wird die Andeutung verstehen. Sehr dankbar wären wir gewesen, wenn uns die eben erwähnte officielle Stellung in der Symphonie wenigstens an einigen Stellen merklich geworden wäre. Höchst pikante Effecte in der Orchestration notiren wir eigens und mit Vergnügen, – leider begegnen wir daneben immer wieder den aller- modernsten, überaus wohlbekannten Wagnerismen, die wir nicht einmal bei Wag- ner selbst mehr goutiren, dem tobenden Lärmfortissimo, den unleidlichen, nervö- sen Lohengrin-Dünngeigereien, mit denen uns die Componisten denn doch endlich einmal verschonen sollten. Die Kritik muß ehrliche und offene Sprache führen, will sie nicht an der gro- ßen Lüge der modernsten Kunstzustände schuldbaren Antheil haben. Ich glaube dieser Pflicht hier genügt zu haben. Um für den wirklichen Werth seiner Sym- phonie einen verläßlichen Maßstab zu gewinnen, führe Bruckner sie nicht einem Publicum vor, dem der favor judicis schon vor dem ersten Geigenstrich aus den Augen sieht, sondern er lasse sie im Leipziger Gewandhause und dann vorsichts- wegen allenfalls auch in Berlin aufführen. Schlägt sie auch da durch, so hat sie die Feuerprobe bestanden. Wir haben für unsere Person in dem neuen Werke Züge und Dinge gefunden, die uns geradezu schmerzlich bedauern lassen, daß ein Mann von solchem Talent, statt auf eigenen festen Füßen kühn und muthig den Weg zum Tempel des Ruh- mes zu gehen, es vorzieht, hinten aufs Bedientenbrett des Wagner’schen Triumph- wagens zu springen und sich so hinaufkutschiren zu lassen – vorausgesetzt, daß der Wagen unterwegs nicht umwirft. Einem enthusiastischen Jüngling kann man es zugutehalten, wenn er sich in die Arten und Unarten eines von ihm blind ange- beteten Vorbildes verrennt; aber Bruckner ist eben kein Jüngling mehr. Könnten wir voraussetzen, daß er einer (vielleicht unangenehm-aufrichtigen) Stimme sein Ohr nicht verschließt, so würden wir ihm zurufen: Maß, Mäßigung, Selbstbe- schränkung. Unsere modernste Musik leidet an Maßlosigkeit. Und diese wird am Ende der Tod der hypersthenisch gewordenen Kunst sein. Wie sich die Sachen anlassen, scheint es, daß wir nicht beim Anfang einer glorreichen neuen Musik- epoche stehen, sondern beim Ende aller Musik angelangt sind. A. Rezensierte Veranstaltung Konzert von Anton Bruckner (Abschlussfeier der Wr. Weltausstellung), 26. Oktober 1873, MVgr.