Page - 533 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

533 November 1873 135 140 145 150 155 160 165 170 175 lums Händel für abgethan und nicht mehr präsentabel hielt, – C.  M. v.  Webers Cantate „Der erste Ton“ gehört so gut in diese Classe wie Lindpaintners Operette „Die Macht des Liedes“, wie endlich der letzte Versuch dieser Art: Spohrs Sympho- nie „Die Weihe der Töne“ – äußerlich einer der buntesten und glänzendsten, innerlich aber einer der leblosesten und verfehltesten. Beethoven ist, wie natürlich, nicht dafür verantwortlich, daß man seine Gelegenheitscantate zum Wiener Con- greß „Der glorreiche Augenblick“ zu einem „Preis der Tonkunst“ umgearbeitet hat. Alle diese Werke sind so ziemlich verschollen. Woher also die unverwüstliche Lebenskraft des Händel’schen „Timotheus“ oder „Alexander-Festes“? Antwort: sie liegt nicht nur darin, daß die Musik hier nicht durch Phrasen, sondern durch die That, d. h. durch ihre eigenen mächtigen Wirkungen gepriesen wird, sondern auch in der Frische und Urkraft der Händel’schen Composition. Im Allgemeinen läßt sich von Händels Musik zum „Alexander-Fest“ sagen, daß sie trotz des antiken Stoffes auch nicht einen Tropfen antiken oder antikisirenden Blutes in sich hat. Von Marcello’s verunglücktem Versuch einer äußerlichen Nachahmung sehen wir natürlich ab. Wenn man Gluck als einen musikalischen Griechen in geistigem Sinne bezeichnet, so hat man Recht. Aber Händels Musik zum „Timotheus“ ist so erzromantisch wie möglich, – romantisch bei all’ ihrer grandiosen Einfachheit. Gleich ihre musikalischen Propyläen sind im gothischen Style gebaut – das will sagen: gleich die Ouverture ist ein energisches Fugato. Das „lydische Brautlied“, welches Marcello ohne Gnade für unser Ohr im „Modus lydicus“ gesetzt haben würde, ist das modernste D-dur, welches je mit zwei Kreuzlein signirt gewesen, modern sind die Fanfaren der Trompeten und Hörner beim Trinklied – und so alles Weitere. Nur wo Timotheus und Cäcilia mit einander confrontirt werden, versucht es Händel, mit kurzen einfachen Flötensätzchen an die antike Musik, wie wir sie uns allenfalls vorstellen, zu erinnern. Aber in Terzgängen! Da doch der Ditonus und Semiditonus für die Griechen dissonirten! Und wenn er ganz unmittelbar darauf in einer seiner machtvollsten Inspirationen anfängt: „vom Himmel kam Cäcilia“ und nach Herzenslust contrapunctirt und fugirt und in Donner-Accorden einherschreitet, so ist freilich vom armen Timotheus und seinen zwei Terzdudelflöten keine Rede weiter – und man sieht, wenn man es auch sonst nicht wüßte, wohin des Meisters Sympathien gingen und daß er Drydens Richter- spruch in zweiter Instanz abändert. Aber wir missen das antike Costüm gerne für die Züge naiver Wahrheit und Natur, welchen wir hier begegnen. Das schmelzende Brautlied mit den sehnsüchtig-zärtlichen Klängen des obli- gaten Violoncells und der berühmte Weckruf mit dem 12 Mal wiederkehrenden „obstinaten Baß“ lehren uns die entgegengesetzten Pole des Gefühlskreises ken- nen, den Händel beherrschte. Und wiederum auch ist kein größerer Contrast zu denken, als der unbeschreiblich schöne Klaggesang um den gefallenen Darius und der rüstig-fröhliche Trinkchor, der freilich für ein Rittergelage aus dem Mittelalter besser passen würde, als für ein griechisches Symposion. Merkwürdig darin ist der momentane Anklang an das „God save the King“. In allen Nummern, wo eine be- stimmte Empfindung gemalt und geweckt werden soll, ist der Ton von unüber- trefflicher Wahrheit und trifft sein Ziel ins Centrum. Bei den Zwischen- und Füll- stücken haben wir wenigstens echte Händel’sche Musikmelodien voll Mark und