Page - 538 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

538 November 1873 135 140 145 150 155 160 165 170 175 Symphonie und die große Messe einige Sternenweiten hinausliegt. Beethoven kam nicht mehr dazu, diese neue Welt voll und rund auszuschaffen. Ein Theil unserer neuesten Musik hat das Erbe ab intestato und ohne das beneficium inventarii ange- treten, daher denn bei ihr leider die Passiva den Activstand überschreiten und alle Aussichten auf einen Bankerot da sind. Es ist ein Zeichen der musikalischen Zeit, aber wahrlich kein gutes und er- freuliches, daß die noch vor 30 Jahren gar nicht seltenen fixen Quartettabende in musikalischen Privathäusern so gut wie aufgehört haben. Dafür hört man überall Klavier trommeln. Will ein Genremaler für die nächste Kunstausstellung ein Genre bild „Das Privatquartett“ malen, so sucht er sich für Secondegeige und Viola übertragene, verschimmelte Philister als Modelle aus, das Cello legt er einem dicken Pfarrer in die Hände und die Primgeige dem Hausherrn, einem Kammer- oder Forstrath, der auch schon seiner „Pensionirung mit ganzem Gehalt“ entge- gengeht. Als ob das Quartett Musik für „alte Herren“ wäre, für Leute, die bei versperrten Thüren einander etwa Gellerts „zärtliche Schwestern“ vorlesen! Es ist daher eine wahrhaft verdienstliche Sache, in der Saison einen Cyklus von Streichquartetten und überhaupt von höherer Kammermusik zu Gehör zu bringen – und es darf als Merkwürdigkeit registrirt werden, wenn eine Musikstadt dergleichen entbehren muß – wie z. B. Prag, das doch einst die herrlichen Pixis’schen Quartettabende besaß. Wir haben Hellmesbergers erstes Quartett mit um so mehr Freude begrüßt, als uns diesmal die Florentiner untreu geworden sind. Den Anfang machte Haydns D-moll-Quartett. Die Production begann um 7 Uhr, die Eintrittskarten sagten halb acht. Ich bedaure sehr, wegen dieser irrigen Angabe auf den Karten den „Haydn“ versäumt zu haben, der, wie ich höre, ganz vortreff- lich ausgeführt wurde. Das Brahms’sche Klavierquartett in A-dur, welches zu- nächst folgte, ist eine Composition voll Geist, welche diesmal nur leider ihren Geist unter den Händen des betheiligten Pianisten aufgab. Er spielte den Klavier- part allerdings fest und sicher herunter, das ist aber ziemlich Alles, was man ihm nachrühmen kann. Das Andante des Beethoven’schen Quartetts op. 18, Nr.  6, war darnach eine wahre Seelenerquickung. Das erste Allegro litt unter einem merklich zu raschen Tempo, welches dem Charakter heiteren Behagens, den Beethoven in diesem Stü- cke unverkennbar ausdrücken wollte, entschieden Eintrag that. Unvergleichlich ging das Finale, wo Beethoven es immer wieder versucht, seiner Melancholie (la malinconia) mit leichtem Scherz zu begegnen, das scherzhafte Motiv aber zuletzt selbst einen Moment lang von Schwermuth angehaucht wird – doch nur, um so- fort in Prestissimo der trüben Stimmung zu entlaufen. Ein zahlreiches Publicum spendete reichen und verdienten Beifall. Zum Schlusse meines heutigen Berichtes muß ich nochmals auf Händels „Alexander-Fest“ zurückkommen. Einer freundlichen Mittheilung verdanke ich die Notiz, daß seit jener kolossal besetzten Aufführung in der Winterreitschule die Oratorium-Cantate auch 1860 am 1.  April unter Stegmeyers Leitung von der Sing- akademie aufgeführt wurde. Wie das mir mitgetheilte Textbüchlein zeigt, wurde das Werk damals nach Mozarts Bearbeitung und mit der älteren Textesüberset- zung von Ramler gegeben. Die neue von Gervinus, die wir jüngst gehört, ist nicht