Page - 556 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

556 Dezember 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Melodie und Empfindung ist die Stelle: et erit in pace memoria ejus – Gallus selbst hat ihre Schönheit empfunden, denn er läßt sie gegen damalige Componisten- gewohnheit einige Male wiederholen. Beethovens Phantasie, höchst originell in Anlage und Ausführung, steht im Allgemeinen unter des Meisters Werken nicht mit in erster Reihe, weil sie von der gewaltigeren neunten Symphonie, zu welcher sie einen sehr merkwürdigen Vorläu- fer bildet, überglänzt und überdonnert wird. Die äußere Aehnlichkeit ist groß, der darein gelegte Grundgedanke ein ganz anderer. Jener der neunten Symphonie ist so oft erörtert worden, daß es hier genügen wird, darauf einfach hinzuweisen. Die Phantasie enthält einen kleinen praktischen Cursus über Genesis und Ausdrucks- fähigkeit der Musik – die „Metamorphose der Tonbildungen“ – etwa wie Goethe eine „Metamorphose der Pflanze“ schrieb. Der Meister sitzt am Klavier – wie träu- mend und sinnend greift er in die Tasten – zuerst in auf- und absteigenden Accor- den, die weiter nichts sagen, aber schon nahen ihm fester umrissene Tongestalten, sie gaukeln vorüber, sie gestalten sich immer deutlicher – endlich werden die Geis- ter des Orchesters wach, der Baß regt sich leise in seiner Tiefe – fast zärtlich rufend antwortet das Klavier – die anderen Instrumente nahen eines nach dem anderen – da faßt das Klavier endlich eine ganz bestimmte Tongestalt, eine zweitheilige Liedmelodie – periodisch, gegliedert, abgeschlossen, ein Thema. Sofort bemäch- tigt sich das Orchester der Gabe, die süße Flöte paraphrasirt das Motiv, während das Klavier bescheiden begleitet, die zwei Oboen drehen es, humoristisch genug, ins Philiströse, bald klingt es heroisch, als leicht angedeuteter Kriegsmarsch, bald innig und empfindungsvoll – seinen ganzen Inhalt packt das Thema nach und nach aus – und endlich, nachdem lange vorher Klavier und Instrumente den Accent der Worte „schmeichelnd hold“ wie ahnend angeschlagen, dem Chor gleichsam angeboten, beginnt die Menschenstimme „schmeichelnd hold, wenn der Töne Zauber walten“ u. s. w. und der Chor ergreift jenes Liedthema, den Schlußgedanken des Ganzen aussprechend: „nehmt denn hin, ihr schönen Seelen, froh die Gaben hoher Kunst“, und ein wahres Pracht- und Glanzstück von Schluß- presto reißt uns wie im Geistersturme hoher Begeisterung empor. Wahrlich eine Tondichtung ersten Werthes und sehr viel mehr als eine bloße Vorstudie zur „neunten“. Mit den Menschenstimmen geht Beethoven auch hier schlimm genug um, doch weniger grausam als in der letzten Symphonie, denn ein ausgehaltenes hohes Gis der Soprane ist doch um einen halben Ton tiefer als ein ausgehaltenes hohes A. Die Aufführung war vortrefflich, Herr Smietansky verdient für die Art, wie er den Klavierpart spielte, das größte Lob; nicht minder ausgezeichnet trug er Volckmanns schönes Concertstück vor, eine Composition, über welcher ein ganz eigener poetischer Duft schwebt. Eine von Herrn Walter mit Lust und Liebe gesungene Tenorarie war eine Schubert’sche Novität – wenigstens für uns, denn als Einlage in Herolds „Zau- berglöckchen“ (la clochette), für welche Oper Schubert sie componirte – es war damals die Zeit der „eingelegten Arien“ – wurde sie im Theater oft gehört. Sie soll damals zumeist Glück gemacht haben, was keine Empfehlung für Herolds Partitur wäre, denn sie ist ein ziemlich schwaches, wenngleich sehr angenehm ins Gehör fallendes Stück – vielleicht hat sich Schubert ihrer musikalischen Umgebung an-