Page - 563 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

563 Dezember 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Dann mag die Begleitung nachkommen. Wenn aber die Begleitung voll feinster Klaviertechnik und feinster Klaviereffecte der Singstimme eben nur erlaubt, sich ihr declamatorisch anzubequemen, wie es gehen will, so ist das die verkehrte Welt. Franz Schubert kann lehren, wie die allerreichste, allerinteressanteste Begleitung am Ende doch zur Folie der Hauptsache, des Gesanges, dienen mag. Sigismund Blumners Concert brachte uns eine Nummer und Novität, wel- che allein ein ganzes Programm aufwiegt: das Pianofortequartett in A-moll op.  43 von Friedrich Kiel. Daß jemand, der 43 Werke und mehr hinter sich hat, seit Jahren thätig ist und zu den Besten seiner Zeit zählt, bei uns eben erst debütirt, ist doch wohl ein kleines Mirakel. Kiels Stabat mater, sein Requiem u. s. w. vorzufüh- ren, wäre doch wohl für die Musikstadt par excellence eine Ehrenpflicht. Kiel ist ein wahrhaft trauriges Beispiel, wie heutzutage selbst hellstrahlende Verdienste keine Garantie für Erfolg sind, wenn nicht die Reclame vor ihnen hertrompetet und hinter ihnen hertrommelt. Dagegen geht Mittelmäßiges, ja ganz Schlechtes alle stelle, wenn nur Göttin Reclame gnädig und thätig ist, wie z. B. ein ganz schlechter moderner italienischer Maler durch anhaltend fortgesetzte Correspon- denz-Lobpreisungen derselben „geistreichen“ Feder in verschiedenen „vielgelese- nen“ Journalen so ziemlich schon zur europäischen Berühmtheit hinaufgetrom- melt worden ist. Kiels Composition ist, um es kurz zu sagen, ein reines Meisterwerk. Relativ – aber nur relativ – am mindesten wollte uns das Scherzo zusagen, dessen Spielerei mit gerader, in ungeraden Tact hineinrhythmisirter Bewegung etwas For- cirtes hat. Das Adagio aber ist, ohne auch nur einen Zug Beethoven’scher Remini- scenz, reinster Beethoven; dieselbe Seelenhoheit, dieselbe Tiefe der Empfindung spricht aus diesem wunderbaren Thema. Das Final stürmt feurig dahin und ist in den rein polyphonen Stellen die Arbeit einer sicheren Meisterhand. Blumner neh- me unsern besonderen Dank! Er selbst ist eine energische, brave Natur und ein echter Künstler. Sein Concert hatte daher auch den gewissen „Künstlerzug“. Er kommt mir vor wie ein klavierspielender Mercutio, oder aber wie ein Herakles „in Schiller-Format“, oder wie ein kleiner Othello, der seine Desdemona, das Piano- forte, liebt und zugleich zittern macht – und, so wenig er etwa Klavierschläger ist, seine Concerte sind gleichsam musikalische „öffentliche Gewaltthätigkeiten“ – aber so liebenswürdige, daß kein Strafcodex und kein Strafrichter etwas dagegen haben kann. Er gießt, so zu sagen, seine Statuen meisterhaft, aber sie dann auch noch zu ciseliren, hat er keine Lust. Aber zehn elfenbeinglatte Salonpianisten gebe ich gern für den rauhen, biederen Mercutio, in dem ein tüchtiger Kern mannhaf- ten und künstlerischen Sinnes steckt. Am Ende wird er aber doch nicht übel thun, wenn er ein wenig – ciselirt. Lodovico Breitner, wie sein Name und seine Abkunft, halb Italiener, halb Deutscher, ist, wie wir vom vorigen Jahre her wissen, ein eminentes Talent, und Fortschritte seitdem hat er auch gemacht. Aus allen Fingerspitzen fährt ihm Feuer und er hat nur zu zügeln und zu dämpfen, nicht aber das Feuer erst noch anzu- feuern. Sein Concert hatte sehr günstigen Erfolg. Frl. Tagliana, die geborene Italienerin (aus Mailand) und erzogene Deutsche – also recht das Seitenstück zu Breitner – sang eine glänzende italienische Pièce mit allem „Brio“ und „Fuoco“, das bei dem geistvollen Völkchen Hesperiens in allen Adern und Gliedern lebt.