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Forschungsansatz – methodisch-theoretische Aspekte
Besatzungsplanungen bis Kriegsende sowie im Zusammenhang der darauffolgenden US-
Propagandastrategien zu Ausbruch des Kalten Krieges.
Besonderes Interesse gilt dabei freilich der spezifischen Rolle Österreichs in all diesen
Untersuchungsbereichen. Obwohl die politische Sprachregelung
– wenn auch primär aus
Gründen psychologischer Kriegsführung
– nach der „Moskauer Erklärung über Österreich“
im Jahr 1943 die künftige „Befreiung“ des Landes propagierte und einen von Deutschland
unterschiedenen , quasi „freundlicheren“ Besatzungsstatus vorsah , machten die konkreten
Reorientierungs-Planungen hinsichtlich der tatsächlichen NS-Indoktrinierung der Be-
völkerung und der de facto vollständigen Durchdringung des gesamten Erziehungs- und
Bildungssystems durch den Nationalsozialismus jedoch weder zu Kriegsende noch danach
signifikante Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich.
Vor diesem Hintergrund zielt die allgemeine forschungsleitende Ausgangsfrage der
Arbeit auf den impliziten Zusammenhang zwischen den von der amerikanischen Besat-
zungsmacht in den Nachkriegsjahren gesetzten Demokratisierungsmaßnahmen und der
Ausbildung einer post-nationalsozialistischen , demokratischen Wissenschaftskultur , im
weitesten und allgemeinsten Sinne : der Ausbildung einer weltoffenen , international ori-
entierten akademischen österreichischen Identität. Oder anders gefragt : Inwiefern hat die
Präsenz der alliierten Besatzungsmächte , die , wie Oliver Rathkolb im Zusammenhang
mit der hochgradig restaurativen Kunst- und Kulturentwicklung zu Beginn der Zweiten
Republik angemerkt hat , „vor allem in den ersten Jahren mit großer realpolitischer Macht
ausgestattet war“,39 tatsächlich Einfluss auf den universitär-akademischen Wiederaufbau
genommen ? Welche Rolle spielten dabei insbesondere die verantwortlichen US-Militär-
stellen vis à vis der sich rasch reetablierenden konservativ-restaurativen Professorenschaft
und der Ministerialbürokratie , und lässt sich deren Aktivität , wie Reinhold Wagnleitner
meint , tatsächlich als Erfolg sehen ?40 Und wenn ja , in welcher Hinsicht ? Noch einmal an-
ders formuliert : Wenn heute , unter heuristischer Ausblendung der immensen strukturellen
und finanziellen Probleme an Österreichs Universitäten und außeruniversitären Wissen-
schaftseinrichtungen und so mancher hartnäckiger Provinzialismen und Selbstmarginali-
sierungstendenzen , davon ausgegangen werden kann , dass sich Österreichs Wissenschafts-
system nach über 65 Jahren , grosso modo , von allen vormodern-autoritären , reaktionären
oder antisemitischen Prägungen befreit hat
– ist das eine Entwicklung , an der die Supervi-
sion durch die Alliierten Truppen beziehungsweise die Reorientierungs-Maßnahmen der
US-amerikanischen Besatzungsmacht einen rekonstruierbaren Anteil hatten ?
39 Oliver Rathkolb , Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005 , Wien 2005 , 309.
40 Wagnleitner schreibt dazu in diesem Zusammenhang : „Die US-Behörden , die die restaurativen Tendenzen im
österreichischen Geistesleben mit Mißtrauen verfolgten , entwickelten daher verschiedene Austauschprogramme ,
mit deren Hilfe sie die langjährige intellektuelle Isolation durchbrechen und den Rückzug auf traditionelle wis-
senschaftstheoretische Positionen verhindern wollten.“ Und an anderer Stelle : „Die Bemühungen der US-Edu-
cation Division waren also , trotz mancher Schwierigkeiten , als Resultat institutioneller und mentaler Trägheits-
momente , langfristig nicht ohne Auswirkungen.“ Wagnleitner , Coca-Colonisation , a. a. O., 194 bzw. 204.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741