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1. Images , Stereotype und Vorurteile
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nen enthusiastischen Befund aussprach , wie Jahrzehnte zuvor schon Alexis de Tocqueville ,
der – im Unterschied zu Europa – den Bildungsstand ( der weißen Bevölkerung ) in den
Vereinigten Staaten als „überall gleichermaßen hoch“206 eingeschätzt hatte :
„Wenn irgend ein Volk auf der ganzen Erde von der Wichtigkeit allgemeiner Volksbildung
durchdrungen ist , so ist es sicherlich das amerikanische. [ … ] Der Amerikaner läßt sich selten
eine Gelegenheit entgehen , seine Bildung zu bereichern. Einen Arbeiter , der nicht regelmäßig
seine Tageszeitung liest , habe ich während meines vierzigjährigen Aufenthaltes in den Verei-
nigten Staaten noch nicht gesehen. Selbst der am Ende der Zivilisation wohnende Urwaldfar-
mer ist Abonnent eines der vielen Wochenblätter , die an Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit
des Lesestoffes die europäischen Zeitungen weit übertreffen. [ … ] Das Sprichwort ‚Schuster
bleib’ bei deinen Leisten‘ , das fossile Professoren und aufgeblasene Würdemeier in Deutsch-
land höher strebenden , aus der unteren Volksschicht stammenden Jünglingen verächtlich zu-
zurufen pflegen , hält der Amerikaner für den Ausdruck gemeiner Gesinnung. [ … ] Der Yankee
ist kein Kleinkrämer , noch viel weniger aber ein Neidhammel ; dadurch unterscheidet er sich
vorteilhaft von dem eingewanderten Deutschen. Schule , Kirche und Presse machen ihn be-
ständig auf die Tatsache aufmerksam , daß dem Mutigen und Strebsamen die Welt gehört und
daß der Amerikaner berufen ist , alle sozialen Fragen im Sinne der Demokratie zu lösen und so
der übrigen Menschheit als nachahmungswürdiges Muster zu dienen.“207 [ Hervorhebung d. Verf. ]
Im Unterschied zu den positiven Berichten deutschsprachiger Volksbildner und Bildungs-
reformer über die edukativen Leistungen Nordamerikas betrachtete man auf amerika-
nischer Seite das kontinentaleuropäische Bildungssystem , vor allem das autoritäre und
bürokratische deutsche Schulsystem , zunehmend unter kritischen Gesichtspunkten.208
Die 1902 publizierte Vergleichsstudie eines englischen Autors kritisierte an der deutschen
Schule die „vollständig ausbleibende Eigeninitiative der Schüler , die vorauseilende Men-
talität der staatlichen Pflichterfüllung , die Diskriminierung der weiblichen Schülerschaft
und die strikte Separation zwischen Elternhaus und Schule.“209
206 Herbert Christ fasst die positive Beobachtung Tocquevilles folgendermaßen zusammen : „Man findet
daher in der einfachsten und einsamsten Blockhütte von weißen Siedlern ebenso wie in städtischen
Wohnungen Zeitungen und Bücher ; man findet überall nicht nicht nur einen vergleichbaren Informa-
tionsstand , sondern auch eine vergleichbares Warenangebot.“ Zit. nach : Christ , „Aber schauen ist nicht
beobachten“. Alexander von Humboldt und Alexis de Tocqueville als Beobachter in Amerika , a. a. O., 302.
207 Prof. Karl Knortz ( Evansville , Indiana ), Wie in Amerika die allgemeine Volksbildung gefördert wird. In :
Ernst Schultze / G. Hamdorff ( Hrsg. ), Archiv für Volksbildungswesen aller Kulturvölker. Bd. 1 , Hamburg
1907 , 303–312.
208 Gerhard Th. Mollin , Amerikanische Spiegelungen – das Deutschlandbild in den USA 1870–1918. In :
Dan Diner ( Hrsg. ), Deutschlandbilder (= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Bd. XXVI ), Tel
Aviv 1997 , 107.
209 Füssl , Deutsch-Amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert , a. a. O., 34.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741