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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
Wie Karl-Heinz Füssl herausstreicht , resultierte der enorme gesellschaftliche Wandel
Amerikas von einem ehemals wilden Agrarland zu einem zunehmend durch urbane Groß-
Metropolen charakterisierten Hochindustrieland in einem „Paradigmenwechsel [ … ] , der
ein von europäischen Traditionen abgesetztes Verständnis von Bildung und Wirtschaft
erzeugte“ und als Reformstrategie ein „eigenständiges Wissenschafts- und Gesellschafts-
verständnis kultivierte“, das dem erneuerten „Geist der kommunitaristischen Tradition
Amerikas“210 entsprach und neben Reformen im Hochschulwesen auch zur Gründung
der großen philanthropischen Bildungseinrichtungen Amerikas im Übergang vom 19. zum
20. Jahrhundert führte.211
Das neue edukative Selbstverständnis und Selbstbewusstsein amerikanischer Kultur-
und Bildungspolitik im 20. Jahrhundert dokumentierte sich unter anderem auch darin ,
dass die US-Vertreter in den Zwanzigerjahren im Genfer Völkerbundkomitee teilweise
massive Kritik an der Praxis europäischer Bildungspolitik übten und die Kooperation auf-
grund der elitären Wissenschafts- und Bildungskonzepte sowie wegen zunehmender „na-
tionalistisch-chauvinistischer Strömungen in Europa“ beeinträchtigt sahen.212
An den stereotypisierten Bildern amerikanischer Lebenskultur sowie deren alltäglichen
massenhaften Hervorbringungen vermochten positive Aussagen einzelner Bildungsfach-
leute und Gelehrter freilich ebenso wenig zu ändern wie am Unbehagen und den Ressen-
timents gegenüber einer in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht längst zur Groß-
macht aufgestiegenen Nation.
So sehr die breite Masse in den europäischen Ländern dem „Land der unbegrenzten
Möglichkeiten“ fasziniertes Interesse entgegenbrachte und die Segnungen der modernen
Unterhaltungsindustrie gerne konsumierte , blieben die konservativen , antidemokratischen
europäischen Eliten in ihrem Bildungsdünkel weiterhin der generell ablehnenden Hal-
tung gegenüber Amerika verhaftet. Der Siegeszug amerikanischer Automobile , „billiger“
Hollywoodfilme , populärer Unterhaltungsmusik sowie des Massenkommunikationsmittels
Radio wurden als Indikatoren eines europäischen Niedergangs betrachtet , der neben dem
ökonomischen und politischen Bedeutungsverlust nunmehr auch den sensiblen Bereich
bisheriger kultureller Hegemonievorstellungen betraf. Infolge der anwachsenden Attrakti-
vität amerikanischer Unterhaltungskultur auf europäischem Boden
– in der sich obendrein
ab den 1920er-Jahren verstärkt afro-amerikanische Einflüsse bemerkbar machten
–, zeich-
nete sich für Europa eine schmerzliche Niederlage gegenüber den USA just „im Kernbe-
reich seiner traditionell beanspruchten Überlegenheit , nämlich der Kultur“213 ab.
210 Ebd., 40.
211 Beispiel sind hier das Carnegie-Institute ( gegr. 1896 ) bzw. das Carnegie Endowment ( gegr. 1913 ) oder
die Rockefeller Foundation ( gegr. 1910 ). Vgl. ebd., 41.
212 Ebd., 69 f.
213 Fröschl , Antiamerikanismus in Europa und Lateinamerika , a. a. O., 92.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741