Page - 76 - in Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration - US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Image of the Page - 76 -
Text of the Page - 76 -
1. Images , Stereotype und Vorurteile
76
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund und den enormen Einwanderungswellen aus Süd-
und Osteuropa starteten private Bildungsorganisationen und US-Regierungsstellen ein
großangelegtes Programm zur kulturellen Assimilierung der Immigranten , die zu „guten
Amerikanern“ gemacht werden sollten. In sogenannten „Americanization-Schools“ hat-
ten Kinder , Jugendliche und erwachsene Einwanderer Englisch-Sprachkurse zu belegen ,
amerikanische Geschichte zu lernen und sich mit den Grundsätzen der amerikanischen
Demokratie vertraut zu machen. Neben dem Ziel einer Integration in die plurale ameri-
kanische Zivilgesellschaft beabsichtigten diese edukativen Maßnahmen einer politischen
Bildung – die auch führende amerikanische Intellektuelle wie Horace Mann begrüßten –
freilich auch , dass die Immigranten im Zuge dieses Amerikanisierungsprozesses ihre Her-
kunftskultur im Sinne eines multiethnischen „Melting Pots“ allmählich aufgeben sollten.272
Angefangen vom Kindergarten , über Public Schools , Public Libraries bis hin zu Erwachse-
nenbildungsangeboten der „National Education Association of the United States“ ( NEA )
sollten alle Bildungsagenturen des Landes dieser kulturellen Assimilierung zuarbeiten , was
offenkundig so durchschlagend gelang , dass die NEA bereits 1908 davor warnte , dass die
rapide Amerikanisierung der Einwandererfamilien die traditionellen Eltern-Kind-Bezie-
hungen untergraben würde.273 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das System der „Ame-
ricanization Schools“ mit Unterstützung des U.S. Bureau of Education weiter ausgebaut
und nun auch vom War Department im Rahmen einer Offensive zur „Good Citizenship“
begleitet , die auf die Sicherstellung national-patriotischer Loyalität und Respekt gegen-
über sozialem Fortschritt zielte und leistungsfähige Bürger und unerschrockene Soldaten
( „intrepid soldiers“ ), „equipped for industry , commerce and business“ schaffen sollte.274
Angesichts der bellizistisch-martialischen Weltmachtpolitik des Deutschen Reiches ver-
wandelte sich Deutschland jedenfalls zu einem Feindbild
– zum „evil empire“275
–, dem suk-
zessive auch die an sich germanophilen amerikanischen Intellektuellen zunehmend kritisch
gegenüberstanden. Neben dem amerikanischen Philosophen George Santayana , der , nach
Studien in Göttingen und Dresden , den „deutschen Volkscharakter“ als Mischung aus „the
uniforms , the music and the beer“276 zusammenfasste , sah dann etwa auch John Dewey ,
Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Columbia University und zentraler Repräsentant
amerikanischer Bildungstheorie , einen tiefergehenden ideologischen Konflikt zwischen der
deutschen „Kultur“ und der anglo-amerikanischen „Zivilisation“ ausgebrochen , der
– aller-
272 Jeffrey E. Mirel , Patriotic pluralism. Americanization education and European immigrants , Cambridge
2010 , 48.
273 Ebd., 57 f.
274 John C. Hennen , The Americanization of West Virginia. Creating a Modern Industrial State , 1916–1925 ,
Lexington 1996 , 121.
275 Detlef Junker , Politics , Security , Economics , Culture , and Society. Dimensions of the Transatlantic Rela-
tions. In : Detlef Junker ( Ed. ), The United States and Germany in the Era of the Cold War. A Handbook.
Vol. 12 , Cambridge 2004 , 2.
276 Zit. nach : Zacharasiewicz , Das Deutschlandbild in der amerikanischen Literatur , a. a. O., 117.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741