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„Our Country’s Call to Service“
Am Rande des „moral awakening“611 vis à vis der NS-Diktatur , der demokratischen
Selbstvergewisserung im Kontext der „Education for Victory“, die , wie dargestellt , un-
ter anderem in einen binnenamerikanischen Bildungsreformdiskurs mündete , entstan-
den ab 1942 – teilweise mit expliziter Bezugnahme auf die vagen Friedensperspektiven
der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 – auch erste , freilich größtenteils ebenso vage
bildungspolitische Überlegungen hinsichtlich der „Post-war Reconstruction“ – für die
Vereinigten Staaten selbst , und , daraus entspringend , für die Demokratisierung des post-
totalitären Europa.
Anders als die im sozialpsychologischen und psychiatrischen Bereich entwickelten
Reeducation-Konzepte , auf die noch gesondert einzugehen sein wird , waren die im päd-
agogisch-erziehungswissenschaftlichen und philosophischen Bereich entfalteten Vorstel-
lungen von einer gesellschaftlichen Deindoktrinierung ihrer Tendenz nach einer strikt
pazifistisch-moralischen Argumentationslinie verpflichtet ,612 kaum interdisziplinär ori-
entiert und wenig empirisch untermauert. Die edukativen Rekonstruktions-Überlegungen
lesen sich außerdem eher unsystematisch-pragmatisch ( es gibt vor 1945 vergleichsweise
wenig gesonderte Literatur zu diesem Thema ); sie zielten neben der Demokratisierung
des deutschen Schulwesens vor allem auch auf kooperative , langfristige Veränderungen
der gesellschaftlich-politisch Rahmenbedingungen nach dem Vorbild des „American way
of life“ sowie auf die Schaffung internationaler , überstaatlicher Gremien zur nachhaltigen
Friedenssicherung.613 Wie im schon skizzierten „Education in Wartime“-Diskurs bildete
auch hier die Formel Demokratie = Freiheit = Education den inhaltlichen Kern der Debatte ,
nun allerdings erweitert um die Elemente „American way of life“ und Friedensicherung
durch internationale Zusammenarbeit.
Geistige „Umerziehung“ durch die Siegermächte im Sinne einer strengen und harten ,
womöglich auf Bestrafungsmaßnahmen basierenden Rezivilisierung der Völker oder einer
trinierung eine Diskussionsgrundlage für eine „Welterziehung“, in der sozialwissenschaftliche Methoden
und Inhalt zum Einsatz kommen sollten.
611 The Education of Free Men , a. a. O., 114.
612 Die moralischen Motive in der ursprünglichen Reeducation – oder besser : Educational Reconstruction –
sieht auch Henry Kellermann , wenn er vom „Kreuzzug des Guten gegen das Böse“ spricht ; allerdings
vertritt Kellermann die Auffassung , dass sich der „pragmatische Charakter“ der „Reeducation“ nach 1945
neben der wiederholten Anpassung und Veränderung des Programms insbesondere „in der Abwesenheit
eines ideologischen und bis in alle Einzelheiten festgelegten Planes“ zeige. Diese Analyse lässt allerdings
außer Acht , dass die universalistische Gleichsetzung von Demokratie und „American way of life“ zutiefst
ideologische Wurzeln aufweist. Henry Kellermann , Von Re-education zu Re-orientation. Das amerika-
nische Re-orientierungsprogramm im Nachkriegsdeutschland. In : Heinemann , Umerziehung und Wie-
deraufbau , a. a. O., 87 f.
613 So meinte beispielsweise der Präsident der Harvard University , James Bryant Conant : „We must be prepa-
red at the outset to have the process of reconstruction proceed slowly , very slowly. There can be no magical
restoration of freedom , peace and happiness for all.“ Zit. nach : School and Society , Vol. 55 , January 3 , 1942 ,
No. 1410 , 10.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741