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2. „Education for Victory“
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auch politisch besser verwenden ließen – enthalten die psychiatrisch-psychologischen
„Reeducation“-Ansätze.678
Sowohl für die Proponenten einer „Educational Reconstruction“ als auch für die Ver-
treter einer psychiatrisch-psychologisch inspirierten Variante einer mentalen Neuorien-
tierung nach Kriegsende bildete die als unumgänglich angesehene Notwendigkeit einer
tiefgreifenden und nachhaltigen Rehabilitierung der „outlaw nation“ Deutschland – tat-
sächlich stellte der Rekurs auf das deutsche Volk den primären theoretisch-anwendungsbe-
zogenen Bezugsrahmen dar
– den gemeinsamen Ausgangspunkt.679 Hier wie dort sah man
in der strikten Entnazifizierung und Entmilitarisierung , in der sozio-ökonomischen Sta-
bilisierung , in der Re-Demokratisierung des pervertierten Schul- und Bildungswesens so-
wie der gesamten Bildungs- , Kultur- und Medienlandschaft die Vorbedingungen für eine
längerfristige Veränderung des „way of life“ in Richtung einer post-totalitären Gesellschaft.
Im Unterschied zum weichen , nicht Kollektivschuld-bezogenen Diskurs der „Pädago-
gen“, deren liberal-aufklärerischer Ansatz vom autonomen Subjekt und nicht vom devian-
ten Patienten ausging , und dabei
– neben curricularer Schulung
– das konkrete öffentliche
Handeln und Verhalten in einer demokratischen Lebenspraxis in den Mittelpunkt stellte ,
zielte das kollektiv-psychiatrische „Reeducation“-Konzept
– unter Verwendung klinischer
Kategorien
– direkt auf die Köpfe beziehungsweise Einstellungen ( „minds“ ) der „mentally
sick German people“.680 Angesichts der aggressiven NS-Hetzpropaganda gegen „Freiheit“
und „Demokratie“, des mörderischen Wahnsinns von Holocaust und Vernichtungskrieg
und der dabei verübten unvorstellbaren Gräueltaten , drängte sich auch in der Öffentlich-
keit die Vorstellung von einem durch „maniacal perverts“681 verrückt gewordenen Volk auf.
Die ersten ( sozial- )psychologisch angelegten Analysen des Nationalsozialismus
– zum
Teil handelte es sich dabei um journalistischen Arbeiten
– waren bereits im Jahr der Macht-
ergreifung Hitlers erschienen.682 Hier und insbesondere bald darauf in der materialreichen
Studie des Politikwissenschafters Frederick L. Schuman zur „Sozialpathologie und Politik
678 Siehe : Uta Gerhardt. A Hidden Agenda of Recovery : The Psychiatric Conceptualization of Re-education
for Germany in the United States during World War II. In : German History , Vol. 14 , 1996 , No 3 , 297–324.
679 Ernst Bungenstab , Umerziehung zur Demokratie ? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone
1945–49 , Gütersloh 1970 , 28 ; einen Überblick über den allgemeinen Forschungsstand für Deutschland
bietet : Ellen Latzin , „Reeducation“ – „Reorientation“: Theorie und Praxis zentraler Leitbegriffe der ame-
rikanischen Besatzungspolitik nach 1945. In : Elisabeth Kraus ( Hrsg. ), Die Universität München im Drit-
ten Reich. Aufsätze. Teil I , München 2006 , 609–635.
680 Karl Loewenstein , Political Reconstruction , New York 1946 , 337. Zit. nach : Bungenstab , Umerziehung
zur Demokratie ? , a. a. O., 22.
681 Denna Frank Fleming , What is it that we fight ? [ Radioansprache am 3. März 1943 , Nashville / Tennesse ].
In : Representative American Speeches : 1942–1943 , a. a. O., 71.
682 So z. B. Edgar A[ nsel ]. Mowrer , Germany Puts the Clock Back , London 1933 oder Harold D. Lasswell ,
The Psychology of Hitlerism. In : The Political Quarterly , Vol. IV , July–September 1933 , No. 3 , 373–384. In
derselben Ausgabe des Political Quarterly erschien übrigens ein Beitrag von Mussolini : Benito Mussolini ,
The Political and Social Doctrine of Fascism. In : Ebd., 341–356.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741