Page - 163 - in Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration - US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Image of the Page - 163 -
Text of the Page - 163 -
163
„Our Country’s Call to Service“
Unterstützung und Hilfestellung , Zivilcourage und Gemeinschaftssinn beruhen.707 Oder
wie Neurath 1944 im Vergleich der unterschiedlichen Lebenskulturen ausführte : „It will
perhaps be useful to distinguish between ways of life , in which ‘self-sacrifice’ has no limits , as
far as the ‘State’ or some ‘Deity’ is concerned , and those in which the ‘personal conscience’
plays an important role , and no order from the outside forces a person to think it a ‚duty‘ to
persecute and torment his neighbour “.708 [ Hervorhebung d. Verf. ]
Seine „erzieherischen“ Überlegungen führten Neurath – der , obwohl enttäuscht über
den Erfolgs des Nationalsozialismus in Österreich , wie Günther Sandner darlegt , Unter-
schiede zwischen dem gesellschaftlichen Klima in Deutschland und Österreich709 sah –
interessanterweise auch zu praktischer Mitwirkung im Rahmen der britischen „Re-edu-
cation“. So brachte Neurath seine Ideen einer auf ISOTYPE ( „International Standard
of Typografic Pictorial Education“ ) beruhenden „visuellen“ Umerziehung als Experte in
Gremien der unter anderem auch mit Entnazifizierungsfragen beschäftigten „Conference
of Allied Ministers of Education“ ( CAME ) ein710 und arbeitete gemeinsam mit dem Do-
kumentarfilmer Paul Rotha im Auftrag des britischen Informationsministeriums ( MoI ) an
mehreren Filmen für die vom Nationalsozialismus okkupierten Gebiete , für die er Trick-
filmsequenzen einbaute , die auf der Technik von ISOTYPE basierten.711
Außer Frage steht jedenfalls , dass der Begriff der „Reeducation“ ab 1941 zunehmend
Einfluss auf politische Konzepte eines nicht-pädagogischen , interventionistischen und
zum Teil auf Bestrafung abzielenden Nachkriegsaufbaues gewann , wie sie dann am deut-
lichsten in den germanophoben Überlegungen Henry Morgenthaus , in abgeschwächter
Form aber auch im US-War Department , artikuliert wurden.
In der öffentlichen politischen Diskussion wurde der Reeducation-Begriff zwar meis-
tens im Zusammenhang mit einer politisch „härteren“, interventionistischen Friedensi-
cherung für die Zeit nach dem Krieg verwendet , aber ebenso unscharf und ohne genauere
inhaltliche Definition wie in der Fachliteratur. So findet sich der Begriff „Reeducation“ in
707 Günther Sandner , The German Human Climate and Its Opposite : Otto Neurath in England , 1940–45.
In : Anthony Grenville / Andrea Reiter ( Eds. ), Political Exile and Exile Politics in Britain after 1933 , New
York
– Amsterdam 2011 , 76 ff. Ich danke an dieser Stelle Dr. Günther Sandner für den Hinweis auf seine
Publikation und die Überlassung einer Kopie.
708 Zit. nach ebd. 78.
709 Dies führte Neurath unter anderem just darauf zurück , dass die idealistischen Lehren Immanuel Kants in
Österreich nur geringen Einfluss entfaltet hätten. Sandner , The German Human Climate and Its Oppo-
site , a. a. O., 78.
710 „Neurath [ … ] was convinced that literature that reflected the Nazi standpoint should not necessarily be
banned ; however , nor should it be used in schools. Denazification in his view meant examining a long
intellectual and cultural tradition.“ Sandner , The German Human Climate and Its Opposite , a. a. O., 80.
711 Günther Sandner , „Demokratisierung des Wissens. Politische und ökonomische Bildung in Otto Neu-
raths intellektueller Biographie“. Vortrag bei der internationalen Konferenz „Mit Bildung ist zu rechnen.
Erwachsenenbildung im Spannungsfeld von ökonomischen Zwängen und Wissensvermittlung“, Wiener
Urania , 9. 11. 2012.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741