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Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen undKonzepte
Das edukativ-aufklärerische Stichwort für eine demokratische gesellschaftliche Neuorga-
nisation lautete daher „Selbsterziehung“.
Ein überaus spannend zu lesendes Dokument , in dem die genannten Elemente auf
hochreflektiertem Niveau und mit gesellschaftstheoretischem Anspruch zusammengefasst
vorliegen , ist in diesem Zusammenhang ein gemeinsam von Paul Tillich , Friedrich Pol-
lock899 und Adolf Löwe900 – alle Mitbegründer beziehungsweise Unterstützer des emig-
rierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung – verfasstes Positionspapier dar , das die
Reorientierung deutlich als politische Aufgabe auffasste : “Even the best methods of educa-
ting the German people will be in vain if the political problems of post-war Europe are de-
cided in such a way that educational possibilities are excluded from the very beginning.”901
In diesem sozialwissenschaftlich differenziert argumentierenden Dokument zur Reorien-
tation finden sich gleich zu Beginn klar jene Gefahren angesprochen , die eine langfristig
asymmetrische edukative Beziehung zwischen Siegern und Besiegten zur Folge haben
würde. Die erste von den Autoren erhobene bildungspolitische Forderung lautete daher :
“The first demand for the post-war education of the German people is the acknowledgement
that the relation of victors and vanquished is not an educational relation. Any educational relation
is based on natural authority and on natural confidence which cannot grow in such a situation.
Not even those numerous Germans who welcome the victory of the Allied nations over Nazism would
be willing to accept the victors as educators.
– This excludes the idea that Americans or other Al-
lied educators should be sent to the Axis nations for educational purposes.”902 [ Hervorhebung
d. Verf. ]
Die zu erwartenden Widerstände gegen eine oberflächliche Demokratie-Propaganda wä-
ren enorm , und alle Maßnahmen einer „bildungspolitischen Reaktion“ seitens der Sieger-
mächte nur kontraproduktiv.
899 Friedrich Pollock ( 1894–1970 ), deutscher Ökonom und Sozialwissenschafter , Mitbegründer des Frank-
furter Instituts für Sozialforschung im Jahr 1923. Pollock emigrierte 1933 mit Max Horkheimer über
Genf nach Paris und von dort weiter in die USA. Vgl. Rolf Wiggershaus , Die Frankfurter Schule. Ge-
schichte , theoretische Entwicklung , politische Bedeutung , München 1987 , 76 f.
900 Adolf Löwe [ Loewe ] ( 1893–1995 ), deutscher Wirtschaftstheoretiker , Soziologe und sozialdemokra-
tischer Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium der Weimarer Zeit , Schulfreund von Max Horkheimer
und Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Löwe emigrierte 1933 nach England und
kam 1940 in die USA , wo er u.a an der New School for Social Research in New York lehrte. Jay , Dialec-
tical Imagination , a. a. O., 25 ; zur Biografie Löwes siehe insbesondere : Claus-Dieter Krohn : Der philoso-
phische Ökonom. Zur intellektuellen Biographie Adolph Loewes , Marburg 1996.
901 Paul Tillich ( in cooperation with Dr. Pollock and Dr. Loewe ), The Post-War Education of the German
People [ ca. 1944 ] , 9. Hoover Institution Archives , Stanford University , John Doane Hartigan Papers ,
1909–1958 , Box 7 : Military reports and career of John Doane Hartigan.
902 Tillich ( Pollock / Loewe ), The Post-War Education of the German People , a. a. O., 2.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741