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Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte
Die Gründe , warum der breite zivilgesellschaftliche Konsens hinsichtlich der Notwen-
digkeit längerfristiger Reorientierungs-Maßnahmen im Kontext der militärischen Nach-
kriegsplanungen – anders als zu erwarten stünde – letztlich keine entsprechende inhalt-
liche Transmission in die administrativ-strategischen Vorbereitungsarbeiten der alliierten
Militärbesatzung erfahren hat , sind wohl zu komplex , um auf einen einfachen Nenner
gebracht zu werden. Von zentraler Bedeutung war aber sicherlich die Haltung Präsident
Roosevelts , der längerfristigen Planungsperspektiven
– nämlich denen seiner eigenen Mit-
arbeiter im US-State Department – mit großer Skepsis begegnete und in Bezug auf die
Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland zunächst stark dem Bestrafungskonzept seines
Finanzministers Henry Morgenthau zuneigte , das die Rückführung Deutschlands in ei-
nen vorindustriellen Agrarstaat vorsah.920 Das ist in der
– sowohl gegen die britischen und
russischen Intentionen als auch gegen das Department of State921
– formulierten Doktrin
der bedingungslosen Kapitulation ( „unconditional surrender“ ) ebenso ersichtlich wie in
der maßgeblich von Morgenthau inspirierten Geheimdirektive 1067 der „Joint Chiefs of
Staff“ ( JCS ) für die Behandlung Deutschlands ; sie erging im September 1944 als Direktive
bezüglich des „Military Government of Germany“ an General Dwight D. Eisenhower als
„Supreme Commander , Allied Expeditionary Force“ ( SCAEF ) und formulierte als klares
Ziel „the prompt defeat of the enemy“. In dem Dokument , das zunächst weder von dem
sowjetischen Bündnispartner noch vom amerikanisch-britischen „Combined Civil Affairs
Committee“ – eingerichtet im Frühjahr 1943 innerhalb der G-5-Abteilung von SHAEF –
angenommen wurde , findet sich in Bezug auf die geplante Vorgehensweise in Deutschland
ein explizit auf Bestrafung ausgerichtetes Konzept , das den zivilen Reorientierungs-Über-
legungen geradezu diametral gegenüberstand :
“Pending the receipt of directives containing long range policies , your objectives must be a short
term and military character , in order not to prejudice whatever ultimate policies may be later
determined upon. Germany will not be occupied for the purpose of liberation but as a defeated enemy
920 Vgl. dazu : Otto Schlander , Der Einfluß von John Dewey und Hans Morgenthau auf die Formulie-
rung der Re-educationspolitik. In : Heinemann ( Hrsg. ), Umerziehung und Wiederaufbau , a. a. O.,
42 f. ; weiters : Jutta-B. Lange-Quassowski , Amerikanische Westintegrationspolitik , Re-education und
deutsche Schulpolitik. In : Heinemann ( Hrsg. ), Umerziehung und Wiederaufbau , a. a. O., 54 f. ; siehe
auch : Wilfried Mausbach. Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutsch-
landkonzept der USA 1944–1947 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte , Bd. 30 ), Düsseldorf
1996.
921 Seit der Teheraner Kriegskonferenz wandten sich sowohl die Sowjetunion als auch Großbritannien gegen
die Verwendung des Terms „Unconditional Surrender“ in Bezug auf Deutschland. Vgl. Foreign Relations
of the United States ( FRUS ). Diplomatic Papers , 1944. Vol. 1. General. U. S. Government Printing Ser-
vice 1944. Hrsg. v. Historical Office des Departments of State , Washington D.C. 1966. Mr. William Phil-
lips , Political Advisor at the Headquarters of the Supreme Allied Commander , to the Secretary of State ,
London 17. Dezember 1944 , 484.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741