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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Summe machten , laut einer von Dieter Stiefel vorgenommenen Auswertung , 85 bis 90 Pro-
zent aller Registrierten von der Ausnahmeregelung Gebrauch.1283 Allein in Wien brachten
85,5 Prozent aller bei den Meldestellen der Bezirksämter Registrierten ein Nachsichtsgesuch
ein
– in den übrigen Bundesländern verhielt es sich ähnlich.1284
Für den Staatsdienst – und somit auch für alle Universitätsprofessoren – kamen zu-
nächst lediglich die allgemeinen Bestimmungen des Verbotsgesetzes vom 8. Mai 1945 zur
Anwendung , das zu weiten Teilen auf einer Selbstregistrierungspflicht beruhte.1285
Entlassen wurden zunächst alle NSDAP-Mitglieder ( inklusive der Parteianwärter ), alle
„Illegalen“ ( nach Paragraph 4 / VG ) sowie alle reichsdeutschen Lehrkräfte. Insbesondere die
„Liquidierung“ aller reichsdeutschen Universitätsangehörigen1286 und die Entlassung aller
sonstigen öffentlich Bediensteten verlief , wie aus den Akten des „Liquidators der Einrich-
tungen des Deutschen Reiches in der Republik Österreich“1287 hervorgeht , vergleichswei-
se zügig und unkompliziert : Etwa ein Drittel aller Lehrenden wurde auf diese Weise bis
Anfang 1946 entlassen ;1288 nicht selten kam es aber zu befristeten Enthebungen , die bis zu
verbände ( SS , SA , NSKK , NSFK ) niemals missbraucht hat und aus seinem Verhalten noch vor der Be-
freiung Österreichs auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich mit Sicherheit
geschlossen werden kann.“ Zit. nach : Stiefel , Entnazifizierung in Österreich , a. a. O., 88. [ Hervorhebung
der Verfasser ]. Zum Bereich Entnazifizierung im Kontext politischer Parteien siehe allgemein auch : Maria
Mesner ( Hrsg. ), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch , Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg.
Das Beispiel der SPÖ , Wien – München 2005 , sowie : Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz , Der Wille
zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger
Nationalsozialisten. Hrsg. vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen , Intellektueller und Künst-
lerInnen ( BSA ), Wien 2005 ; Walter Manoschek , „Aus der Asche dieses Krieges wieder auferstanden“.
Skizzen zum Umgang der österreichischen Volkspartei mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus
nach 1945. In : Werner Bergmann / Rainer Erb / Albert Lichtblau ( Hrsg. ), Schwieriges Erbe. Der Umgang
mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich , der DDR und der BRD (= Schriftenreihe des
Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin , Bd. 3 ), Frankfurt a. Main – New York 1995 , 49–64.
1283 Stiefel , Entnazifizierung in Österreich , a. a. O., 97.
1284 Vgl. Bernd Vogel , NS-Registrierung in Wien. In : Walter Schuster / Wolfgang Weber ( Hrsg. ), Entnazi-
fizierung im regionalen Vergleich , Linz 2004 , 341.
1285 Demnach waren alle ehemaligen Nationalsozialisten gesetzlich verpflichtet , sich bei den Gemeinde-
ämtern oder Arbeitsämtern über den sogenannten „Fragebogen“ registrieren zu lassen. Besonderes Au-
genmerk legte das Verbotsgesetz dabei auf alle „illegalen“ Nationalsozialisten , d. h. jene Personen , die
zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 der NSDAP beigetreten waren. Diese Personen
waren fristlos aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen , verloren ihr direktes und indirektes Wahlrecht
und es wurden ihnen „Sühnepflichten“ in unterschiedlichem Ausmaß auferlegt.
1286 Also alle Universitätsangehörigen , die am 13. März 1938 nicht österreichische Staatsbürger gewesen waren.
1287 Siehe dazu die entsprechenden Erkenntnisse im Bestand 04 BKA , Liquidator , im Österreichischen
Staatsarchiv. Der Liquidator war zudem auch für die Entlassung der „Illegalen“ zuständig , was aber bis
Frühjahr 1946 nicht alle Dienstellen wussten beziehungsweise beachteten.
1288 Vgl. Christian Fleck , Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem
Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswis-
senschaften , 7. Jg., 1996 , H. 1 , 74 f.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741