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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Tschadek1542 im Mai 1946 im Parlament klare Worte , die vielleicht auch andere Parlamen-
tarier moralisch teilten , aber nur wenige offen aussprachen. In Tschadeks Fall waren des-
sen kritischen Äußerungen vermutlich auch unterschwellig dadurch motiviert , durch eine
pointierte Abgrenzung zum Nationalsozialismus möglichst keinen Verdacht hinsichtlich
der eigenen Täterschaft aufkommen lassen :
„Hohes Haus ! Die Hochschulen sind immer ein Sorgenkind der österreichischen Demokratie
gewesen [ … ] was wir von einer Hochschule verlangen , das ist mehr als daß sie etwa bloß eine
Fachschule darstellt. Wir wollen eine Hochschule , an der Akademiker erzogen werden , die für
Freiheit und Demokratie keine Gefahr mehr darstellen. [ … ] Diese Aufgabe hat die österrei-
chische Hochschule Jahrzehnte hindurch nicht erfüllt.
Wir haben es deshalb erlebt , dass gerade der österreichische Akademiker als erster dem
Schwindel des Nationalsozialismus in Österreich erlegen ist. Und wenn wir heute in der zwei-
ten Republik unsere Hochschulen aufbauen , dann müssen wir darauf Wert legen , dass die
Hochschulen aus einer Stätte des reaktionären Geistes zu einer Stätte der freien Wissenschaft
und der Demokratie werden. [ Starker Beifall. ]
Um dieses Ziel zu erreichen , müssen wir in erster Linie die Hochschulen entnazifizieren. Wir
müssen unsere Lehrkörper von allen nationalsozialistischen Elementen säubern. Wir haben
Entnazifizierungskommissionen und diese haben ehemaligen Nationalsozialisten in sehr
großzügiger Weise Beurteilungen ausgestellt , dass sie für den österreichischen Staat und sei-
nen Wiederaufbau tragbar seien [ … ]. Ich bin der Meinung , dass die Entnazifizierung auf den
Hochschulen grundsätzlich und ausnahmslos zu erfolgen hat und dass zunächst jeder Hoch-
schullehrer zu verschwinden hat , der nationalsozialistisch belastet ist. [ Beifall. ]“1543
1542 Otto Tschadek ( 1904–1969 ), Nachfolger Christian Brodas als sozialdemokratischer Justizminister
1960 , von 1941 bis zum Kriegsende Marinerichter am „Gericht des Küstenbefehlshabers westliche
Ostsee in Kiel“, wo er nach 1945 kurzfristig das Amt des Oberbürgermeisters innehatte. Als „Mari-
negerichtsrat“ hatte Tschadek mehrere Todesurteile wegen „Fahnenflucht“ verhängt sowie einzelne
schwere Zuchthaustrafen wegen „Wehrkraftzersetzung“ ausgeprochen. Auf Betreiben des stellver-
tretenden SPÖ-Vorsitzenden Oskar Helmer kehrte Tschadek 1945 nach Österreich zurück und zog
nach den ersten Nationalratswahlen als Abgeordneter in den Nationalrat ein. Vgl. Thomas Geld-
macher , Der gute Mensch von Kiel ? Marinerichter Otto Tschadek ( 1904–1969 ). In : Thomas Geld-
macher / Magnus Koch / Hannes Metzler / Peter Pirker / Lisa Rettl ( Hrsg. ), „Da machen wir nicht
mehr mit …“. Österreichischer Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht , Wien 2010 ,
215 f. bzw. 217 ff. Vgl. dazu auch : Peter Mayr , Ex-Justizminister Tschadek war ein „Blutrichter“. In :
Der Standard , 4. / 5. September 2010 , sowie Christa Zöchling , Die gefälschte Biografie. In : Profil ,
6. September 2010 , Heft 36 , 30–33 ; zuletzt : Maria Wirth , Christian Broda. Eine politische Biografie
(= Zeitgeschichte im Kontext 5 ), Göttingen 2011 , 202 f.
1543 Stenographische Protokolle des Nationalrates der Republik Österreich ( Stenogr. Protoll. d. NR ), 18.
Sitzung , V. Gesetzgebungsperiode , 1945–1946 , 1. Bd., 1.- 30. Sitzung , 24. Mai 1946 , 338. Vgl. auch :
Schicksal der Hochschulen. Große Rede von Nationalrat Tschadek im Parlament. In : Strom. Jugend ,
Geist und Welt , Hochschul-Sonderausgabe , 2. Jg., Folge 17 / 18 , Juni 1946 , 20.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741