Page - 395 - in Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration - US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
da es lediglich eine befristete Anstellung versprach1679
– über Genf schließlich 1940 in die
USA , wo er zunächst einen Lehr auftrag an der Harvard Law School inne hatte ;1680 der
Präsident dieser Ein richtung , James Bryant Conant , hatte ihm bereits 1936 als „a leader of
jurist thought“ das Ehrendoktorat verliehen.1681 Im Unterschied zu Winter und anderen
Wissenschafts emigrés war Kelsen in der Emigration politisch kaum aktiv.1682
Kelsen , der bald in Englisch zu publizieren begann und bereits in den Zwanziger
jahren
als Wissenschafter internationale Reputation besaß , konnte sich in der US-Emigration
gut etablieren : 1942 erhielt er einen Ruf nach Berkeley , wo er drei Jahre später zum „Full
Professor“ ernannt und amerikanischer Staatsbürger wurde.1683
Kelsen und auch seine Schüler vermochten sich , anders als zahlreiche andere österrei-
chische Wissenschaftsemigranten , bereits im „extramuralen Exil“ innerhalb Österreichs1684
sowie insbesondere in den USA in den neu entstandenen „social sciences“ zu etablieren ,
insbesondere profitierten seine Schüler von den gut funktio
nierenden Netz werken ihres
akademischen Lehrers.1685
Außerdem war Kelsen , der bald von einem Gastvortrag zum nächsten reiste , ab 1944
in mehreren Funktionen als wissenschaftlicher Berater für amerikanische Regierungs-
behörden in Washington tätig. So wurde er , laut seinem Biografen Rudolf Aladár Métall ,
der die Fragment gebliebene Autobiografie Kelsens auswertete , vom „Bureau of Areas ,
Liberated Areas Branch , Economic Institutions Staff“ für die Planung der Ver waltung
der von den Alliierten zu befreienden Gebiete inklusive Österreich beige zogen. Darüber
1679 Feichtinger , Wissenschaft zwischen den Kulturen , a. a. O., 216 f.
1680 Der renommierte Dekan Roscoe Pound , der Kelsen nach Harvard holte , charakterisierte Kelsen als „un-
questionable the leading jurist of his time“. Zit. nach : International Biographical Dictionary of Central
European Emigrés 1933–1945. Vol. II , Part 1 : A–K. The Arts , Sciences , and Literature , ed. by Herbert
A. Strauss / Werner Röder , München – New York – London – Paris 1983 , 612.
1681 Zit. nach : Oliver Lepsius , Hans Kelsen und der Nationalsozialismus , a. a. O., 328.
1682 Lediglich im Zusammenhang des im November 1943 in London konstituierten überparteilichen „Aus-
trian National Committee“ taucht Kelsens Name auf : neben Julius Deutsch , Richard Schueller und Franz
Czernin wurde auch er eingeladen , dem London-Komitee , dem Franz Novy als Vorsitzender vorstand
und dem u. a. auch der Soziologe Friedrich Hertz , der Christlich-Soziale Franz Schneider , der Gewerk-
schafter Karl Zernitz [ sic ; recte : „Czernetz“ ] oder Oskar Pollack angehörten , beizutreten. Siehe : Pvt.
Friedinger to Mr. DeWitt C. Poole , 10. November 1943 , Office of Strategic Services. Interoffice Memo.
U. S. Office of Strategic Services. Foreign Nationalities Branch Files 1942–1945. Indexes , Bethesda 1998
[ Mikrofiche-Bestand , Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien , Bibliothek ] , INT–4AU–389.
1683 Robert Walter , Hans Kelsens Emigration aus Österreich im Jahre 1930. In : Stadler ( Hrsg. ), Vertrie bene
Vernunft. Bd. II , a. a. O., 466.
1684 Vgl. Tamara Ehs , Vertreibung in drei Schritten. Hans Kelsens Netzwerk und die Anfänge öster reichi-
scher Politikwissenschaft. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften [ Schwer punkt : „Ver-
triebene Wissenschaft“ ] , 21. Jg., 2010 , Bd. 3 , 155.
1685 Vgl. Johannes Feichtiger , Transatlantische Vernetzungen. Der Weg Hans Kelsens und seines Kreises in
der Emigration. In : Walter / Ogris / Olechowski ( Hrsg. ), Hans Kelsen : Leben – Werk – Wirksamkeit ,
a. a. O., 329 f.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741