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4. „The democratic way of life in Austria“
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hinaus wirkte Kelsen innerhalb der „War Crimes Commission“ auch an der juristischen
Vorbereitung der Nürnberger Prozesse mit.1686
Tatsächlich hatte Kelsen , neben frühen völkerrechtlichen Überlegungen einer zu-
künftigen , internatio nalen Friedensicherung ,1687 Anfang Mai 1944 im Zusammenhang
einer staats rechtlichen Rekonstruktion Österreichs mit Experten der European Affairs
Division im US-State Department über diesen Problemkomplex ( „Future of Austria“ )1688
disku tiert1689 und kurz darauf auch ein Memorandum über Öster reichs Rechtsstellung und
Wiederrichtung als unabhängiger Staat verfasst.1690
Ob und inwiefern diese juristischen Reflexionen Kelsens , die sich im Wesentlichen an
der Moskauer Deklaration orientierten und diese positiv unter mauerten , aller dings tat-
sächlich Einfluss auf die konkrete US-Nach kriegs planung hatten , scheint schon allein we-
gen der tatsächlich erfolgten Wiederanknüpfung an die Bundes verfassung von 1929 mehr
als unwahrscheinlich.1691 Auch Kelsens Vorschläge , die er im Oktober 1945 im Vorfeld der
Ausarbeitung einer Charta für die Vereinigten Nationen an das State Department über-
mittelt hatte , fanden bei den zuständigen Stellen kein Interesse.1692
1686 Métall , Hans Kelsen , a. a. O., 80 f. ; vgl. auch Eppel , Die Vereinigten Staaten , a. a. O., 993.
1687 Dabei kritisierte Kelsen das völlige Versagen des Völkerbunds als Friedensicherungs instru ment , insbe-
sondere auch im Hinblick auf Österreich : „Nothing can demonstrate this more clearly than the fact that
the violation of the territorial integrity of member states , when it came from outside and led actually
to the complete annihilation of these states , as in the case of Austria , Czechoslovakia , and Poland , in
open opposition to the provisions of Articles 10 and 11 , did not even reach the stage of discussion in
the League [ … ]“. Hans Kelsen , International Peace – By Court Or By Government ? In : The American
Journal of Sociology , Vol. XLVI , Jan. 1941 , No. 4 , 580.
1688 Ein nicht uninteressantes Detail ist , dass das Gesprächsprotokoll der Unterredung mit Kelsen unter dem
Titel abgelegt wurde ( „The Future of Austria“ ), unter dem das geheime Memo randum des britischen Fo-
reign Office vom 12 Juli 1943 verfasst wurde. In einem US-Evaluations bericht darüber heißt es u. a. : „The
British take it for granted that the movement toward ‚Anschluss‘ was so deep-seated in Austrian political
thinking that it becomes the major problem in determining the means of safe guarding Austrian inde-
pendence , if re-established.“ Department of State , Division of European Affairs , Memorandum : Evalu-
ation of the British Foreign Office secret paper „The Future of Austria“, 1. DÖW 10 :010 [ 21. 011 / 14 ].
1689 In diesem Gespräch plädierte Kelsen – anders als im Fall Deutschlands – für die umgehende Wieder-
her stellung eines unabhängigen Österreichs , wobei er , obwohl Ko-Autor der Verfassung von 1919 , vor-
schlug , diese aufgrund ihrer betont föderalen Struktur und der daran geknüpften Probleme nicht wieder
einzusetzen : „Federalism was expensive and seems unnecessary for a future Austrian state.“ Hans Kelsen ,
Memorandum „Future of Austria“, 5. Mai 1944 , 3. DÖW 21. 011 / 14. Teilnehmer an diesem Gespräch
waren : Philip E. Mosely , David Harris , Harry N. Howard und Howard M. Smyth.
1690 Kelsen bewegte sich darin ganz auf Linie der Moskauer Deklaration. Memorandum Hans Kelsen , De-
partment of Political Science , University of California , 1. Juni 1944. DÖW Bibliothek 3017 / 14. Zit.
nach Österreichischer im Exil. USA 1938–1945 , a. a. O., 236. Das Dokument ließ sich unter der angege-
benen Signatur im DÖW allerdings nicht auffinden.
1691 Vgl. dazu auch Eppel , Die Vereinigten Staaten , a. a. O., 993.
1692 In einem elaborierten Memorandum hatte Kelsen die Einrichtung eines „United Nations Institute of Inter-
national Studies“ proponiert ; und auch für die Ausarbeitung einer UNO-Charta wurde er nicht beigezogen ,
da man auf „legalistic technicalities“ keinen großen Wert legte. Zit. nach : Métall , Hans Kelsen , a. a. O., 80.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741