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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Eine erste Reaktion vom Leiter der Education Division in Österreich kam erst einen
Monat nach dem Telegramm aus Washington und fiel lapidar aus. Darin wurde bestätigt ,
dass Kelsen eine Einladung zu einem Gastvortrag an der Universität erhalten habe und man
daher empfehle , ihn auf die „Visiting Experts“-Liste zu setzen. Allerdings hatte die Edu-
cation Division eine Woche zuvor bereits selbst eine derartige Liste zusammen gestellt ; auf
dieser kam der Name Kelsen jedoch nicht vor. Bei den dort angeführten Experten handelte
es sich um Pädagogen , die Vorträge im Bereich der Lehrer fort bildung , für Schulgruppen , für
Frauengruppen oder für Lehrer im ländlichen Bereich halten sollten.1717 Das Verhalten des
Leiters der Education Division in dieser Angelegenheit ist insofern seltsam , als sowohl die
Behörden in Washington als auch die Universität Wien am Zustandekommen einer Gast-
professur Kelsens überaus interessiert waren. Ohne klare empirisch-faktische Klarheit auf
Basis von Quellenmaterial lässt sich an dieser Stelle vorerst lediglich vermuten , dass
– wie in
anderen Fällen auch
– das Unter
richts
ministerium beziehungsweise Sektionschef Skrbensky
die Angelegenheit auf die lange Bank schoben und dadurch schließlich verhinderten.
Am 19. Dezember 1947 erhielt Kelsen – der Anfang Oktober während eines Aufent-
haltes in Washington kurz darüber informiert worden war , dass er sich auf einer tentati-
ven Liste befindet –, ein Antwortschreiben von der Reorientation Branch in Washington ,
worin bedauert wurde , dass es nach wie vor nicht möglich sei , ihm auf sein Ansuchen eine
definitive Antwort zu geben. Wie ihm Edgar Erskine Hume mitteilte , wurde dieses nun
bereits seit geraumer Zeit ( „some time“ ) durch die zuständigen US-Militärbehörden in
Österreich geprüft , aber – wie entschuldigend hinzugefügt wurde –, auf Grund bereits
erfolgter Zusagen sowie unzureichender Mittel sei es leider nicht möglich , so viele „Kon-
sulenten“ nach Österreich zu entsenden , wie man sich das wünschte :
“Due to previous commitments and insufficient funds to allow for as many consultants as are
desired in Austria , it has been possible for them to decide definitively whether or not they
would be able to include you.”1718
Wie aus einem dem zitierten Schreiben beigefügten ‚Memo‘ hervorgeht – darin wurde
nochmals hervorgehoben , dass Kelsens Ansuche nicht zuletzt wegen seines Prestiges als
verdienstvoll ( „meritorious“ ) erachtet werde
–, hatte das War Department am 9. Dezember
1947 nochmals direkt bei den zuständigen USFA-Stellen nach gefragt. Diese hatten betref-
fend Kelsens Wunsch , eine Gastprofessur in Wien zu übernehmen , geantwortet , „that his
[ Kelsens , d. Verf. ] presence is not deemed to be of ‚vital importance‘ , but that he might be
considered on later requests for visiting experts.“1719
1717 Ebd., Eduction Division , USACA , 10. Oktober 1947 , Education Specialists to Visit Austria , 2.
1718 NARA II , RG 165 , Box 324. Colonel Edgar Erskine Hume , GSC Chief , Reorientation Branch Civil
Affairs Division , an Hans Kelsen , 19. Dezember 1947.
1719 Ebd.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741