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Schlussbemerkung662
konzipiert –, nach Niederschlagung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges und
der Beendigung der fürchter lichen Gräuel des Holocaust durch die Militarisierung der
US-Außenpolitik im Kalten Krieg zu weiten Teilen einer anti kommunistischen Beein-
flussungsdoktrin geopfert wurde , stellt – selbst unter Aus klammerung ‚moralischer‘ Ge-
sichtspunkte – ein demokratie politisches Ver säumnis und wohl auch Verhängnis ersten
Ranges dar. Unter diesen Voraussetzungen reetablierten sich bald personelle und ideolo-
gische Strukturen an Österreichs Universitäten , die die bisherige akademische Tradition
aus der Zeit von Monarchie und Erster Republik , nämlich einer hochgradig antisemiti-
schen , aliberalen , autoritär-restaurativen , antimodernen und zuweilen deutlich reaktionä-
ren deutschnationalen Haltung fortleben ließen.
Ohne die positiven Auswirkungen der politischen Westintegration in Frage stellen zu
wollen , konnten im Fahrwasser des rhetorisch-doktri när zugespitzten radikalen Antikom-
munismus
– und zwar bei allen Beteiligten
– wohl letztlich mehr anti demo
kratische , rassis-
tische oder schlicht bornierte Einstellungs
muster überleben , als selbst unter Anerkennung
harscher kommunistischer Feindpropaganda und sicherheits politischer Bedrohungsszena-
rien zu rechtfertigen gewesen wäre.
Dass in der Ära der Regierung George W. Bush jun. als Reaktion auf die kata
strophalen
Terroranschläge vom 11. September 2001 dann just mit Methoden gekontert wurde , die unter
anderem auf nach wie vor im Dunkeln liegende „wissen schaft
liche“ US-Geheimexperi
mente
im Zusammenhang national
sozialis
tischer Folter
expertisen zurück
gehen ,2738 mag jedenfalls
überaus nachdenklich stimmen. Es verweist auf die große bildungspolitische Erfahrungs-
leerstelle , die durch die baldige Instrumen talisierung der Reorientierungs-Konzepte durch
den Kalten Krieg ent standen ist – eine Leerstelle , die heute angesichts der neoliberalen
Verknappung der Bildungs- und Wissenschaftsfinanzierung auf kurzfristige ökonomische
Nutzen-Kosten-Kalküle besonders deutlich in Erinnerung ruft , wie wenig nachhaltig der
kultivierend-zivilisatorische und friedensichernde Aspekt der auf ‚Humanisierung‘ gerich-
teten Bildungsmaßnahmen der Nachkriegsentwicklung in ihrer Wirkung war.
Die Kurve substanzieller bildungspolitischer Debatten seit den Negativbefunden der
1960er-Jahre im Zusammenhang mit der Bildungsexpansion2739 weist jedenfalls kontinu-
ierlich nach unten. Angesichts des dominierenden Verwertbarkeits denkens unserer Gesell-
schaft auch in Bildungsfragen scheinen alle zentralen demokratie politischen und aufklä-
2738 Siehe dazu : Alfred W. McCoy , Science in Dachau’s shadow : Hebb , Beecher , and the Develop ment of
CIA Psychological Torture and modern medical ethic. In : Journal of the History of the Behavioral Sciences ,
Vol. 43 , 2007 , Nor. 4 , 401–417. Hier zit. nach : http://www.uio.no/studier/emner/jus/ikrs/KRIM2950/
h11/undervisningsmateriale/McCoy.pdf. [ Zugriff 10. 10. 2011 ].
2739 Vgl. Georg Picht , Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation , Olten-Freiburg
im Breisgau 1964 ; Horst Becker / Liselotte Stürzebecher , Die Westdeutsche Bildungs krise. Ursachen ,
Wirkungen , Auswege. Hrsg. v. Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut ( Berlin-Ost ), Berlin 1967 ;
Hans Maier , Michael Zöllner , Die andere Bildungs kata stro phe : Hoch schul gesetze statt Hochschul-
reform , 1970 ; Konrad Adam , Die deutsche Bildungsmisere. PISA und die Folgen , München 2004.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Subtitle
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Author
- Christian H. Stifter
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 762
- Keywords
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741