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26 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Die josephinische Zäsur
In gewisser Weise markiert jedoch die Vertreibung der Prager Juden (1744) einen
Wendepunkt in der habsburgischen Judenpolitik. Die allmählich sich durchsetzen-
den Ideen der Aufklärung wie auch die Säkularisierung der Staatsidee ließen es nicht
länger zu, Untertanen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit auszugrenzen oder
zu vertreiben.70 Zunehmend standen die bestehenden Sonderrechte und -pflichten
der angestrebten Gleichförmigkeit in allen Staatsbelangen entgegen, und zunehmend
setzten sich die Nützlichkeitserwägungen des herrschenden Utilitarismus auch in
der Judengesetzgebung durch. Die noch bestehenden Judenordnungen schienen mit
dem bereits in den ersten Jahren der Regierung Josephs II. proklamierten Grundsatz :
»dass alle österreichischen Untertanen ohne Unterschied der Nation und Religion,
sobald sie in den österreichischen Staaten aufgenommen und geduldet sind, an dem
öffentlichen Wohlstande (…) gemeinschaftlich Anteil nehmen, eine gesetzmäßige
Freiheit genießen und auf jedem ehrbaren Wege zur Erwerbung ihres Unterhaltes
und Vergrößerung der allgemeinen Emsigkeit kein Hindernis finden sollen«71, kaum
mehr vereinbar. In einem Handschreiben an den Obersten Kanzler Graf Blüme-
gen erläuterte der Kaiser seine Grundsätze der Toleranz. Dabei wollte man das Ziel,
nämlich die in seinen Erblanden »so zahlreichen Glieder der jüdischen Nation dem
Staate nützlicher zu machen«, vor allem dadurch erreichen, dass man alle bisherigen
Beschränkungen der Erwerbstätigkeit systematisch abbaute und alle »demütigenden
und den Geist niederschlagenden Zwangsgesetze« beseitigte. Neben der Errichtung
jüdischer Normalschulen empfahl Joseph II., jüdischen Kindern den Besuch der öf-
fentlichen Schulen zu gestatten. Alle Studienzweige, mit Ausnahme der Theologie,
sollten ihnen offen stehen, auch alle ihnen zuvor verschlossenen Berufe : neben der
Landwirtschaft alle Arten von Handwerken sowie die freien Künste. Die Kehrseite
dieses Assimilationsangebotes waren empfindliche Eingriffe in die religiöse und kul-
turelle Identität der Juden, vor allem die Beschränkung der hebräischen Sprache
allein auf den Gottesdienst. Innerhalb einer Frist von zwei bis drei Jahren sollten
die jeweiligen Landessprachen soweit erlernt werden, dass alle Verträge, Zeugnisse,
Rechnungen, Handelsbücher etc. »bei Strafe der Nullität« in diesen ausgefertigt wer-
den konnten.72
70 Vgl. Plaggenborg, Böhmische Juden, S. 4f.
71 Barth-Bathenheim, Gesetzeskunde 1, S. 19.
72 Handschreiben Josephs II. an den böhmischen Obersten und österreichischen Kanzler Graf Blüme-
gen, zit. nach : Harm Klueting (Hg.) : Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der
theresianisch-josephinischen Reformen (= Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit XIIa)
(Darmstadt 1990), S. 241. Zu den Intentionen Josephs II. siehe auch : Lohrmann, Finanz und Tole-
ranz, S. 39f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271