Page - 29 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Image of the Page - 29 -
Text of the Page - 29 -
Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
der Aufklärung generell und das des Josephinismus im Besonderen gern betont83, so
feierte das zeitgenössische Judentum die Toleranzdekrete noch hundert Jahre nach
ihrem Erscheinen als Durchbruch zur Humanität und Befreiung aus mittelalterli-
cher Knechtschaft und sah in ihren Grundsätzen – vielleicht etwas überraschend –
viel »Übereinstimmung mit der israelitischen Religion«.84
Das böhmisch-mährische System der Familienstellen
Gänzlich verschieden von jenem in Wien und Niederösterreich war das »Judensys-
tem« in Böhmen und Mähren. Hier zielten die sogenannten Familiantengesetze Kai-
ser Karls VI. insbesondere durch Ehebeschränkungen – nur der älteste Sohn erhielt
die Erlaubnis, nach dem Tode des Vaters heiraten zu dürfen – und eine exakt vor-
gegebene Zahl von »Familienstellen« (für Böhmen 8541, für Mähren 5106) darauf
ab, die Zahl der Juden konstant zu halten.85 Hatten die Juden Böhmens und Mäh-
rens seit Beginn der Herrschaft Josephs II. Hoffnung geschöpft, dass das seit 1726
bestehende Familiantenwesen im Zeichen der Aufklärung endgültig verabschiedet
werden würde, so sollte sie mit der Publizierung des Hofdekrets für die Juden Böh-
83 Etwa bei Adolf Gaisbauer in seiner Analyse des etwa zwei Jahrzehnte nach den Toleranzdekreten ent-
standenen Werkes des österreichischen Beamten Joseph Rohrer »Versuch über die jüdischen Bewoh-
ner der österreichischen Monarchie«. Adolf Gaisbauer : Das antijüdische Potential der Aufklärung
und des Josephinismus, in : Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden (1996) 1,
S. 163–182.
84 So pries der Rabbiner und Prediger der Meisel Synagoge zu Prag, Dr. A. Stein, in seiner Festpredigt
anlässlich der Feier des hundertsten Jahrestages der »Kundmachung des ersten der von Kaiser Jo-
sef
II. gegebenen Gesetze zur Befreiung der Juden« am Azereth Fest des Jahres 5642 (1881) Joseph II.
als »Repräsentanten der Humanität«, der »in der Religion der Humanität« (dem Judentum) unsterb-
lich fortbestehen werde. Darauf hinweisend, wie rasch sich »die Widerspenstigkeit« der Kinder Isra-
els gegen die neuen Gesetze gelegt habe, wie rasch die Landessprache die Muttersprache geworden
sei und wie »brauchbar unsere Schulen die Jugend für jede Berufstätigkeit« gemacht hätten, fährt er
fort : »Welcher Israelit in Österreich liebt nicht sein Vaterland, möchte nicht dienen dem Vaterlande,
sterben für das Vaterland ? – Und er möchte das nicht bloß, weil er Österreicher ist, er muss das,
weil er Israelit ist, weil die Grundsätze der Humanität, von Kaiser Josef II. vor 100 Jahren einge-
führt (…) übereinstimmen mit den obersten Grundsätzen der israelitischen Religion«. A. Stein :
Der Mensch im Bilde Gottes. Festpredigt zur Feier des nach 100 Jahren wiederkehrenden Tages der
Kundmachung des ersten der von Kaiser Josef II. gegebenen Gesetze zur Befreiung der Juden aus der
mittelalterlichen Rechtlosigkeit (Prag 1881) (Sonderdruck), S. 12.
85 Zur Entstehung des Familianten-Systems siehe : Anna M. Drabek : Das Judentum der böhmischen
Länder vor der Emanzipation (= Studia Judaica Austriaca X) (Eisenstadt 1984), S. 5–30. Zu den Ju-
den in Böhmen und Mähren allgemein siehe auch : Ruth Kestenberg-Gladstein : Neuere Geschichte
der Juden in den böhmischen Ländern (Tübingen 1969) sowie : Wilma A. Iggers : Die Juden in
Böh men und Mähren (München 1896).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271