Page - 96 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Image of the Page - 96 -
Text of the Page - 96 -
96 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
Verpflichtung der Heimatgemeinde zur Armenpflege keine Folge gegeben und die
Stadtgemeinde Brody zur Zahlung des Gesamtbetrages von 1523 Gulden und 30
Cent an die Regierung des französischen Staates verpflichtet. Gegen diesen Statthal-
tereierlass erhob nun die Stadtgemeinde Brody, vertreten durch ihren Anwalt Eduard
Kornfeld, Beschwerde beim Verwaltungsgerichthof, mit der Begründung, dass die
Verpflegungskosten für die Geisteskranke Ettel Lea Weitzmann nach den gesetzli-
chen Bestimmungen der galizische Landesfonds und keinesfalls die Gemeinde Brody
zu tragen habe.
Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Jänner 1891 gab der Ge-
meinde Brody recht. Nach den Grundsätzen der Reziprozität stehe es außer Zwei-
fel, erkannte das Gericht, dass die österreichische Regierung die den französischen
Spitälern erwachsenen Kosten für die Verpflegung von Irrsinnigen, Findlingen und
Unheilbaren zu ersetzen verpflichtet sei. Um jedoch dieser Reziprozität gerecht zu
werden, sei es geboten gewesen, zu prüfen, »wer im Inlande nach inländischen Ge-
setzen die Kosten für die Verpflegung der Irrsinnigen in den Spitälern zu ersetzen
verpflichtet erscheint«. Nach dem Gesetz vom 17. Februar 1864, mit welchem die
Verpflegungsgebühren in öffentlichen Irrenanstalten geregelt wurden, sei dies der
Landesgesetzgebung vorbehalten. Für Galizien sei ein solches Gesetz am 6. Januar
1875 erlassen worden, »dass den Ersatz der Verpflegskosten nicht der Heimatge-
meinde auferlegt«, sondern dem Landesfonds. Die angefochtene Entscheidung,
welche diese Verpflichtung der Heimatgemeinde Brody auferlegte, sei somit »als im
Gesetz nicht begründet aufzuheben«. 329
»Schutzgenossen« und »Untertanen de facto«
Eine wichtige Funktion der Staatsbürgerschaft ist der Schutz der Staatsangehörigen
im Ausland. Im Falle Österreich-Ungarns betraf dies jedoch nicht nur die im letz-
ten Drittel des 19. Jahrhunderts sprunghaft anschwellende Masse der Auswanderer
(unter denen sich stets ein hoher Anteil von Juden befand) sondern auch
– dies eine
Besonderheit des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts – die österreichischen
Schutzgenossen und Untertanen de facto : in erster Linie (nichtmuslimische) Personen,
die im osmanischen Hoheitsgebiet lebten, jedoch keine türkischen Staatsangehö-
rigen waren und unter dem besonderen Schutz der österreichischen Konsuln stan-
den, oder auch Staatsangehörige fremder, befreundeter Mächte, die in der Levante
keine eigene Vertretung hatten sowie osmanische Untertanen, die bei einem k. u. k.
329 AVA Inneres, Fasc. 8, Staatsbürgerschaft in genere, 1870ff, Karton 356, Nr. 15038/1890 mit dem
Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshof vom 21.1.1891, Nr. 4935/91.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271