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82 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
dass die »erhöhte Mobilität« von Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nicht so sehr durch eine wie auch immer geartete »Wanderlust« ausgelöst wurde,
sondern vielmehr durch Verfolgungen und Pogrome sowie die in vielen Staaten
noch immer vorhandene äußerst prekäre staatsbürgerliche Stellung von Juden.
Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das
Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger
im Dezember 1867
Mit dem Inkrafttreten der Dezemberverfassung von 1867 hatte sich die rechtliche
Stellung der Juden in Österreich grundsätzlich verändert. Fast zwanzig Jahre nach
der gescheiterten Revolution von 1848 war den Juden die uneingeschränkte Gleich-
berechtigung mit allen anderen Staatsbürgern gewährt worden.279 Die »jüdische
Frage«, jener den Werten der Aufklärung und des Deutschen Idealismus verpflich-
tete Diskurs, wie er sich in der gesamten intellektuellen Community von Mendels-
sohn, Fichte, Lessing, Hegel, Herder und Humboldt bis hinauf zu Bruno Bauer und
Karl Marx während eines halben Jahrhunderts entfaltet hatte280, schien damit (für
die österreichische Monarchie) endgültig beantwortet zu sein. Die Antwort lautete
nicht länger mehr : Teilhabe an Staat und Gesellschaft nach vorangegangener Eman-
zipation, d. h. allmähliche Transformation des Judentums durch Aufklärung und Bil-
dung (bis hin zu seinem vollständigem Verschwinden)281, sondern die Antwort hieß
jetzt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und unter den Bedingungen einer
liberalen Verfassung und des Ausgleichs mit Ungarn : Gleichheit vor dem Gesetz
279 Artikel 1 des Staatsgrundgesetzes lautet : »Für alle Angehörigen der im Reichsrate vertretenen Kö-
nigreiche und Länder besteht ein allgemeines österreichisches Staatsbürgerrecht.« RGBl. Nr. 142/
1867. Michael Brenner weist darauf hin, dass die österreichischen Juden schon vier Jahre bevor
Bismarck im Zuge der Reichseinigung die deutschen Juden den übrigen Staatsangehörigen gleich-
stellte, die Gleichberechtigung erlangt hätten. Michael Brenner : Vom Untertanen zum Bürger, in :
Michael Brenner et al.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2 (Emanzipation und
Akkulturation) (München 1996), S. 260–355, hier : S. 320.
280 Zur »Judenfrage« siehe u. a. Tamás Ungvári : The ›Jewish Question‹ in Europe. The Case of Hungary
(New York 2000), S. 9ff sowie : Ulrich Wyrwa : Juden in der Toskana und in Preußen im Ver gleich
(= Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 67) (Tübingen 2003),
S. 430ff.
281 Zum ambivalenten Verhältnis des Deutschen Idealismus zum Judentum siehe vor allem die Studie
von Micha Brumlik : Deutscher Geist und Judenhass (München 2002), dazu auch : Jacob Katz :
Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933 (München 1989), S. 57ff so-
wie jüngst : Christoph Schulte : Moses Mendelssohn, die jüdische Aufklärung und der Pluralismus
im modernen Judentum, in : Eveline Goodman-Thau/Fania Oz-Salzberger (Hg.) : Das jüdische
Erbe Europas (Berlin/Wien 2005), S. 77–91.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271