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70 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
im Herrenhaus stellte der Abgeordnete Leo Graf Thun einen einschränkenden Zu-
satzantrag, der § 7 nur insoweit außer Kraft setzen wollte, als bloß in Orten, »deren
Bevölkerung teilweise aus Juden besteht, auch Juden zu Notaren ernannt werden
können«. Dieser von Kardinal Josef Rauscher (Inhaber einer Virilstimme im Herren-
haus) unterstützte Antrag blieb jedoch in der Minderheit, sodass der Gesetzentwurf
des Abgeordnetenhauses vom Herrenhaus schließlich unverändert in dritter Lesung
angenommen wurde. Die kaiserliche Sanktion erhielt das Gesetz am 13. Novem-
ber 1863. In der »allerhöchsten Entschließung« fügte Kaiser Franz Joseph allerdings
einschränkend hinzu : »Es ist jedoch mein Wille, dass in denjenigen Kronländern,
in welchen keine Israeliten ansässig sind, Bewerbern dieses Religionsbekenntnisses
keine Notariatstelle verliehen werden.«234
Das Heimatrecht der österreichischen Juden
Eine eigentümliche Färbung erhielt das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht
durch seine enge Verknüpfung mit einem anderen, viel älteren Rechtsinstitut, dem
Heimatrecht.235 Das Heimatrecht (vor 1849 »politisches Domicil«) gehörte zu den
Grundelementen altösterreichischer Staatlichkeit. Es war lange Zeit die erste und
einzige normative Grundlage für die Unterscheidung von Einheimischen (Unter-
tanen/Staatsbürgern) und Fremden. Zurück geht es auf das Jahr 1552, als König
Ferdinand (später Kaiser Ferdinand I.) mit einer Verordnung die Gemeinden für
die Versorgung ihrer Armen verantwortlich machte. Seine staatsrechtliche Ausge-
staltung erfuhr das Gemeindeprinzip in der Zeit des theresianisch-josephinischen
Reformabsolutismus, als es im Interesse der Durchsetzung des modernen Territo-
rialstaates notwendig schien, »jedem Individuum seinen Platz« zuzuweisen. In eine
Vielzahl von Konskriptions-, Bettler- und Schubverordnungen flossen seit Mitte des
18. Jahrhunderts armenrechtliche, sozialfürsorgerische, polizeiliche, militärische und
bevölkerungspolitische Ordnungsvorstellungen ein, die zu einer nie zuvor dagewese-
nen Disziplinierung und Territorialisierung der Bevölkerung führen. Sesshaftigkeit
wurde zum Gebot, »fremde« Bettler und Vaganten wurden erbarmungslos abgescho-
ben, einheimische versorgt. Dabei wurde die Gemeinde zum einzigen Ort, wo man
heimisch (zuständig) war, von wo man nicht abgeschoben werden konnte und von
dem man im Verarmungsfall erwarten durfte, erhalten zu werden.236
234 Ebenda, Fußnote 6 und RGBl. Nr. 94/1863.
235 Vgl. Harald Wendelin, Das Heimatrecht, in : Heindl/Saurer (Hg.) : Grenze und Staat, S. 195–230.
236 Eine Hofentschließung vom 16. November 1754 listet drei Kategorien von Menschen auf, die im
Verarmungsfall Anspruch auf Versorgung durch ihre Heimatgemeinde haben :
»a) diejenigen Personen, welche sich in einem anderen Erblande ansässig gemachet, das Bürgerrecht
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271