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Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft
in der Epoche des Ausgleichs
Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen
Am 5. August 1878 erschien der 42-jährige, im ungarischen Szilar-Balhás (Komitat
Veszprém) geborene Fächermacher Josef Wertheimer vor dem Magistrat der Reichs-
haupt- und Residenzstadt Wien, legte eine übersetzte und beglaubigte Urkunde
über seine Entlassung aus der »königlichen ungarischen Staatsbürgerschaft« vor und
gelobte, nachdem er über »die Wichtigkeit der erhaltenen Wohltat und der mit der
Staatsbürgerschaft verbundenen Vorzüge« seitens eines Magistratsbeamten belehrt
worden war, »von nun an als Untertan dem Allerdurchlauchtigsten Fürsten und Herrn,
Franz Josef I., Kaiser von Österreich« treu und gehorsam zu sein, und »die bestehen-
den Gesetze genau beobachten, und überhaupt alle Pflichten und Verbindlichkeiten
eines getreuen österreichischen Untertanen pünktlich« erfüllen zu wollen. Nach die-
sem wenig spektakulären Treueschwur (galt dieser doch dem gleichen Herrn, dem Jo-
sef Wertheimer immer schon ein treuer Untertan gewesen war, mit dem Unterschied,
dass es sich für ihn dabei bisher um den König von Ungarn gehandelt hatte) erhielt
er wenige Tage später eine Urkunde, die ihm bestätigte, dass er nunmehr »überall
als österreichischer Staatsbürger und in Wien heimatberechtigt anzusehen und zu be-
handeln« sei. Mit ihm zugleich eingebürgert worden waren seine Frau und seine vier
bereits in Wien geborenen Kinder. Josef Wertheimer war, wie viele andere Juden auch,
im »Ausgleichsjahr« 1867 nach Wien gekommen, hatte zunächst als Handwerker und
Einkäufer gearbeitet und in Mariahilf zur Untermiete gewohnt. Im Jahr 1873 hatte
er hier ein Haus erworben und eine Fächerfabrik errichtet. Inzwischen beschäftigte
er in seinem Unternehmen vier Gehilfinnen. Es verwundert kaum, dass der Vorsteher
des sechsten Wiener Gemeindebezirks das Ansuchen des »tüchtigen und rechten Ge-
schäftsmannes« um Aufnahme in den Gemeindeverband wärmstens befürwor tete.260
Am gleichen Tag wie Josef Wertheimer erhielt auch der aus Breslau gebürtige, 35-jäh-
rige Kaufmann Salomon Cohn, zusammen mit seiner Ehefrau Camilla und seinen bei-
den in Wien geborenen Söhnen, nachdem er seine Entlassungsurkunde aus der preu-
ßischen Staatsangehörigkeit vorgelegt hatte, die österreichische Staatsbürgerschaft.261
260 Wiener Stadt- und Landesarchiv (im Folgenden zitiert als WStLA), Hauptreg. P Nr. 47231/1878.
261 WStLA, Hauptreg. P Nr. 15067/1878.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271