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88 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
verband verzögerte jedoch den Vorgang. Erst am 17. August 1885, rund ein Jahr
später, konnte Spitzer seine von einem beeideten Gerichtsdolmetscher übersetzte
und durch einen Anwalt beglaubigte Entlassungsurkunde vorlegen. Seine Auf-
nahme in den Gemeindeverband Wien erfolgte gleichzeitig mit der Verleihung der
österreichischen Staatsbürgerschaft am 15. Oktober 1885 (rund zweieinhalb Jahre
nach der Antragstellung)306 – ein außergewöhnlich langes Verfahren. In der Regel
betrug die Frist zwischen Entlassung aus dem ungarischen und Aufnahme in den
österreichischen Staatsverband vier Wochen bis ein halbes Jahr. Im Einzelfall konn-
ten sich jedoch die Beschaffung der notwendigen Dokumente, ihre Übersetzung,
Beglaubigung und Überbeglaubigung als schwierig und kostenintensiv erweisen.
Dazu war es notwendig, dass die »politische Zuständigkeit« einwandfrei feststand,
bzw. durch die Herkunftsgemeinde (nicht notwendigerweise die Geburtsgemeinde)
anerkannt worden war. Im Gegensatz zur cisleithanischen Gesetzeslage – wonach
die Staatsbürgerschaft durch Auswanderung spätestens nach fünf Jahren unweiger-
lich verloren war
– erfolgte in Ungarn die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nur
aufgrund eines ausdrücklichen Gesuchs und nicht aufgrund einer beabsichtigten
oder bereits erfolgten Auswanderung. Unwirksam wurde eine ausgesprochene Ent-
lassung, wenn der Betroffene innerhalb eines Jahres keine andere Staatsbürgerschaft
erworben hatte.307
Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft
Ein weiteres Motiv für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft liegt
im Artikel 3 des Staatsgrundgesetzes, welcher den Eintritt in ein öffentliches Amt
vom Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft abhängig machte. »Jeglicher
Staatsdienst« – sei er zivil oder militärisch – durfte nur mehr von Inländern be-
kleidet werden.308 Die Berufung an eine österreichische Hochschule etwa war jetzt
notwendig mit der vorgängigen Aufnahme in den österreichischen Staatsverband
306 WStLA, Hauptreg. P 11, Nr. 77278/84.
307 Emanuel Milner siehe darin ein starkes »Behalteelement« mit der Absicht, »die Staatsgenossen,
wenn sie schon dem Staatsverband nicht zu erhalten waren, doch so leicht als möglich wieder zu
gewinnen«. Milner, Österreichische Staatsbürgerschaft, S. 82.
308 Die ursprüngliche Fassung des ersten Absatzes von Artikel 3 des Staatsgrundgesetzes lautete : »Die
öffentlichen Ämter sind für alle dazu befähigten Staatsbürger gleich zugänglich«. Auf Antrag des
jüdischen Abgeordneten Ignaz Kuranda, der eine Diskriminierung jüdischer Staatsbürger fürch-
tete, wurde der Zusatz »für alle dazu befähigten« in der Sitzung des Verfassungsausschusses vom
21. September 1867 gestrichen. Vgl. Barbara Haider : Die Protokolle des Verfassungsausschusses
des Reichsrates vom Jahre 1867, Fontes Rerum Austriacarum. Österreichische Geschichtsquellen,
Zweite Abteilung, Diplomataria et Acta, Band 88 (Wien 1997), S. 119.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271