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Paradoxe Fremde 85
Pressburg geborene Kleiderhändler Daniel Bettelheim gehört haben, der am 15. Fe-
bruar 1887, nach über zwanzigjähriger Anwesenheit in Wien, zusammen mit seiner
Frau Helene und seinen fünf Kindern in die österreichische Staatsbürgerschaft und
den Gemeindeverband der Stadt Wien aufgenommen wurde.293 Bettelheim war dort
angekommen, wo er immer schon gewesen war
– in einer für Juden lange Zeit verbo-
tenen Stadt.294
Paradoxe Fremde
Nach dem Ausgleich kommt es, motiviert durch das durch das Staatsgrundgesetz
gegebene Versprechen von Gleichberechtigung, Freizügigkeit und Rechtsicherheit,
zu einem Zurückströmen dieser Ausgewiesenen und »Überzähligen« (bzw. deren
Kindern), von denen manche einst mit dem harten Zwangsmittel des Schubs aus
Wien entfernt worden sein mögen.295 Im Prinzip kamen diese Remigranten jetzt als
gleichberechtigte Staatsbürger, frei, sich überall niederzulassen, ein Gewerbe zu trei-
ben oder Grundbesitz zu erwerben. Doch durch die für das österreichische Staats-
bürgerschaftsrecht konstitutive Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Heimat-
recht wurden sie in Wien abermals zu »Fremden«. So besaßen im Jahr 1869 von den
40 230 in Wien ansässigen Juden nur etwa die Hälfte (20 500) die österreichische
(cisleithanische) Staatsbürgerschaft und bloß 4800 das Heimatrecht der Gemeinde
Wien.296 Bedenkt man, dass zwischen 1870 und 1910 allein über 110 000 Juden von
der ungarischen in die österreichische Reichshälfte wechselten297, so verwundert es
tionspresse von 1848 (=
Europäische Hochschulschriften 986) (Frankfurt/Main et al. 2004), S.
30,
siehe dazu auch : Sigmund Mayer : Ein jüdischer Kaufmann. 1831 bis 1911 (Leipzig 1911), S.
210.
293 WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 229591/86. Dies würde auch den überproportional hohen Anteil an
Pressburgern bei den Einbürgerungen und Heimatrechtserwerbungen in Wien erklären.
294 Mit Ausnahme der tolerierten Juden war fremden Juden der Aufenthalt in Wien bis 1848 nur ge-
gen Entrichtung einer Leibmaut gestattet. Siehe oben und Israel Jeiteles : Die Kultusgemeinde der
Israeliten in Wien (Wien 1873), S. 7.
295 Der Anteil der Juden am »Wiener Hauptschub«, d. h. an der vierzehntägig stattfindenden, militä-
risch begleiteten Sammelabschiebung in die Heimatgemeinde der Betroffenen, betrug Mitte des 19.
Jahrhunderts 8,4 Prozent, wobei die meisten (etwa drei Viertel) nach Ungarn abgeschoben wurden.
Vgl. Harald Wendelin : Schub und Heimatrecht, in : Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze
und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österrei-
chischen Monarchie 1750–1865 (Wien/Köln/Weimar 2000), S. 302, Tabelle 7.
296 Von den »Ausländern« kamen 17 500 aus der ungarischen Reichshälfte. Von diesen waren nur 2800
in Wien heimatberechtigt. Vgl. Schimmer, Statistik, S. 2, siehe auch : Tietze, Juden Wiens, S. 204.
Eine noch genauere Analyse der heimatberechtigten Juden Wiens liefert Jeiteles, Kultusgemeinde,
S. 67.
297 Vgl. Bihl, Juden, S. 888.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271