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92 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
Gesetzgebers gelegen, weist Ofner nach, den Behörden ein freies Ermessen bei der
Einbürgerung einzuräumen, doch zeige die Praxis, dass das Heimatrecht »stetig zum
Nachteil bedürftiger, völlig makelloser Ausländer umgangen« werde.324 Da jedoch
während des ganzen 19. Jahrhunderts für die Gemeinden die Erteilung des Heimat-
rechts mit der Verpflichtung zur Armenfürsorge verbunden blieb, sorgten diese dafür,
dass der Aufenthalt Fremder nur so lange geduldet wurde, als sie selbst für ihren
Unterhalt Sorge tragen konnten. Im Falle ihrer Verarmung (»Subsistenzlosigkeit«)
konnten sie weiterhin mittels des polizeilichen Zwangsmittels Schub in ihre zustän-
dige Heimatgemeinde (zurück)befördert werden. So scheint bei vielen Ansuchen
um die Staatsbürgerschaft die damit verbundene vorgängige Aufnahme in eine Ge-
meinde, also die Erlangung des Heimatrechts, die erste Motivation gewesen zu sein.
Der Fall Dr. Hugo Stark
Während das »mosaische Bekenntnis« nach dem Ausgleich niemals mehr (zumindest
explizit) als Abweisungsgrund genannt wurde, scheint gegen Ende des Jahrhunderts
neben dem Faktor Armut vor allem »politische Bedenklichkeit« ein Hindernis für
die Aufnahme in den Staatsverband gewesen zu sein
– so im Falle des jüdischen Arz-
tes Dr. Hugo Stark, der gegen die mit Statthaltereierlass vom 24. Juli 1897 erfolgte
Abweisung seines Einbürgerungsbegehrens Beschwerde eingelegt hatte. Dr. Stark,
der zwar 1870 in Prag geborene worden, doch nach seinem Vater nach Pottornya
Prekáska (Komitat Lipto) in Ungarn zuständig war, hatte sein ganzes Leben in Böh-
men verbracht : hatte in Prag an der deutschen Karl Ferdinand Universität sein Stu-
dium absolviert und dort promoviert, war danach als Gemeinde- und Bezirksarzt in
Bucher/Puchér, Bezirk Kapitz, tätig gewesen und sich seit Juni 1895 als praktischer
Arzt in Karlsbad niedergelassen. Begründet hatte Hugo Stark sein Ansuchen damit,
dass er in der diesseitigen Reichshälfte (Cisleithanien) seit seiner Geburt ununter-
brochen gelebt, hier seine Ausbildung erhalten habe und dass alle seine mütterlichen
Verwandten sowie alle Verwandten seiner Gattin, Rosa Steiner (Tochter des Prager
Kaufmannes Emanuel Steiner) österreichische Staatsbürger seien, weiters, dass er
hier seine Existenz gegründet und sein »dauerndes Berufsdomicil« genommen habe,
und somit sein Wunsch, für sich und seinen (im Jahr der Antragstellung geborenen)
Sohn die Staatsbürgerschaft und das Heimatrecht zu erwerben, »gewiss gerechtfer-
tigt« sei.
Von der Gemeinde Schönlind/Krásná Lípa, Bezirk Falkenau, war ihm für den Fall
der Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft die Aufnahme in den Heimat-
324 Vgl. Julius Ofner : Die Entstehung des Justizhofdekrets vom 12. April 1833 über die Ersitzung der
Staatsbürgerschaft, in : Juristische Blätter 23 (1905) Nr. 13, S. 157–160 und Nr. 14, S. 146–158.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271