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Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs
Die auf das Staatsgrundgesetz folgende Epoche wurde und wird – im Hinblick auf
die Situation der Juden
– häufig als ein golden age beschrieben411, blieben doch, trotz
wechselnder politischer Konstellationen und trotz des seit den 1880er-Jahren alle
politischen und gesellschaftliche Felder durchdringenden Antisemitismus412, die po-
litischen Rahmenbedingungen, was die staatsbürgerliche Stellung der Juden betrifft,
unverändert.413 Manchmal wird diese Epoche als Verfassungszeit, manchmal auch
als Epoche des Ausgleichs bezeichnet, wobei damit allererst der ungarische Ausgleich
gemeint ist, der die staatsrechtliche Trennung der Monarchie in zwei wesensverschie-
dene Reichshälften : einen Nationalitätenstaat mit acht im Prinzip gleichberechtigten
»Volksstämmen« (Cisleithanien) und einen Nationalstaat mit einem Staatsvolk (den
Ungarn) und verschiedenen ethnischen Minderheiten (Transleithanien) ins Werk
setzte. Doch sehr bald schon bezeichnete Ausgleich nicht länger mehr nur das filig-
rane Konstrukt der k. u. k. österreichisch-ungarischen Monarchie – bzw. die Staats-
kunst, die notwendig war, das alle zehn Jahre neu zu verhandelnde Ausgleichswerk
zu erhalten –, sondern, unter dem Vorzeichen des Aufstiegs der nichtdeutschen Na-
tionalitäten in der konservativen Ära Taaffe, wurde Ausgleich mit veränderten Kon-
notationen auch für Cisleithanien zu einem Code, der begann, alle Politikfelder zu
durchdringen. Dabei ging es nicht mehr um staatsrechtliche Trennung, wie im Fall
Österreich-Ungarn, sondern darum, das Streben der Nationalitäten nach Selbstver-
waltung, nach größtmöglicher Autonomie, mit den Erfordernissen der Verfassung,
näherhin den Bestimmungen des Artikels 19 (das Recht auf »Wahrung und Pflege
von Nationalität und Sprache«) zu versöhnen.
Die Prinzipien dieser Ausgleichsbewegung (wobei hier nicht nur die politisch
realisierten, also der mährische, bukowinische und, mit Einschränkung, der gali-
zische Ausgleich, gemeint sind, sondern ebenso die gescheiterten böhmischen Aus-
gleichsversuche, wie auch die gedachten künftigen) reichen bis in den Vormärz
zurück. Wenn der junge Karl Renner nach der Jahrhundertwende den Umbau der
411 Fred Stambrook : The Golden Age of the Jews of Bukowina 1880–1914 (= Center for Austrian
Studies, Minneapolis, Working Paper 03–2, October 2003).
412 Der jüdische Reichsratsabgeordnete und Begründer der »Österreichischen Wochenschrift«, Dr. Jo-
seph Bloch, beschreibt in mehreren in den 1880er-Jahren erschienenen Aufsätzen (und Reden) den
Antisemitismus nicht mehr bloß als eine Idee, sondern als eine »Leidenschaft«, eine »Leidenschaft,
die sich entflammt und auflodert in jedem Hauche des öffentlichen Lebens«. Joseph S.
Bloch : Der
nationale Zwist und die Juden in Österreich (Wien 1886) (Separatdruck), S. 1.
413 Vgl. Stourzh, Age of Emanzipation, S. 17. Auch John Boyer weist in seiner Studie zu Karl Lueger
darauf hin, dass selbst der populäre Wiener Bürgermeister, dessen programmatischer Antisemitis-
mus ihn von Wahlsieg zu Wahlsieg führte, nie einen ernsthaften Versuch unternahm, die Wiener
Juden ihrer Bürgerrechte zu berauben. Vgl. Boyer, Karl Lueger, S. 208.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271