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Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der
Zweiten Republik
Die Aufhebung des Reichsbürgergesetzes samt allen seinen Verordnungen war eine
der ersten Amtshandlungen der wiedererrichteten Republik Österreich unter ihrer
»provisorischen Staatsregierung« Karl Renner. Mit Kundmachungen vom 13. und
vom 29. Mai 1945 wurden alle durch das nationalsozialistische Reich getätigten
Ausbürgerungen ausdrücklich aufgehoben. Doch die Wiederherstellung der österrei-
chischen Staatsbürgerschaft erwies sich als ein weit schwierigerer, sich über Jahre er-
streckender Prozess. Mit dem Staatsbürgerschaftsüberleitungsgesetz und dem Staats-
bürgerschaftsgesetz vom Juli 1945 wurde ein Rechtszustand wiederhergestellt, wie er
bis zum »Anschluss« bestanden hatte, d. h. Staatsbürger und Staatsbürgerinnen der
Zweiten Republik wurden zunächst all jene, die am 13. März 1938 die österreichi-
sche Bundesbürgerschaft besessen hatten – was grundsätzlich auch alle im Ausland
befindlichen Emigranten mit einschloss, gleichgültig ob sie bereit waren, zurückzu-
kehren, oder nicht. Nicht berücksichtigt worden waren jedoch jene, die bereits eine
neue Staatsbürgerschaft erworben hatten. Dies aber war bei etwa einem Drittel der
während der NS-Diktatur vertriebenen und ausgebürgerten Juden der Fall. Viele von
ihnen hatten, um nicht staatenlos – und damit im Zustand nahezu völliger Recht-
losigkeit
– zu bleiben, bereits die Staatsbürgerschaft ihres Aufnahmestaates angenom-
men, wie etwa der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Julius Fliegel, der bereits im Feb-
ruar 1945 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt606, und hatten damit (wis-
sentlich oder unwissentlich) ihre österreichische Staatsangehörigkeit ein zweites Mal
verloren
– diesmal nicht nach nationalsozialistischem (Un-)Recht, sondern nach dem
fiktiv geltenden österreichischen Bundesbürgerschaftsgesetz von 1925. Zwar wurden
für dieses Rechtsproblem in den Jahren 1949, 1966 und 1973 Sondererwerbsmög-
lichkeiten geschaffen, doch erwiesen diese sich entweder wegen allzu kurzer Antrags-
fristen oder wegen der Bedingung der Aufgabe der fremden Staatsangehörigkeit bzw.
der Bedingung einer Wohnsitzbegründung als vollkommen unzulänglich.
Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft hatte aber nicht nur sym-
bolische und emotionale Bedeutung, sondern war durchaus auch von vermögens-
606 Austrian Heritage Collection, AR 10532, Hans Fliegel, Leo Baeck Institute/Jüdisches Museum
Berlin, MF 503 – viele weitere Fälle. Siehe dazu auch : Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und
Vertreibung, Diagramm 15, S. 437.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271