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74 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Freiheit, Personen, die ihnen, aus welchen Gründen immer, nicht genehm waren,
vom »Recht des ungestörten Aufenthalts und dem Anspruch auf Armenversorgung«
auszuschließen. Eine »Ersitzung« des Heimatrechts war nun nicht mehr möglich.
Zwar galt nach wie vor der staatsrechtliche Grundsatz, dass das Heimatrecht bloß
eine notwendige Ergänzung der Staatsbürgerschaft sei und man im Streitfall die
Entscheidung über diese keinesfalls den Gemeinden selbst überlassen dürfe, doch
in der Realität kam den Gemeinden große Macht bei der Ausstellung bzw. Verwei-
gerung von Heimatscheinen zu.252 Eine Konsequenz war, dass die wachsende Zahl
der Arbeiter in den Industriegemeinden praktisch nie das Heimatrecht (und damit
eine wenn auch nur rudimentäre soziale Absicherung) an ihren Aufenthalts- und
Arbeitsorten erlangen konnte, was sie dem Druck einer möglichen Abschiebung an
den Ort ihrer formalen Heimatzuständigkeit aussetzte. Die Tendenz, Armen das
Heimatrecht zu verweigern, galt stärker noch bei Juden. Allerdings hatte sich deren
Rechtsstellung insgesamt inzwischen dadurch verbessert, dass ihnen im Jahr 1860
nicht nur das Grundbesitzrecht zurückgegeben, sondern mit der liberalen Gewerbe-
ordnung von 1859 – die die alte Zunftordnung abschaffte – auch der Zugang zu
ihnen zuvor verschlossenen Berufen gewährt worden war (eben diese Gewerbeord-
nung von 1859 wird rund zwanzig Jahre später von antisemitischen Handwerkern
und Gewerbetreibenden als »legislativer Sündenbock« benutzt werden und wurde
damit zu einem Baustein des modernen Antisemitismus der frühen 1880er-Jahre).253
Ab den 1860er-Jahren unterlagen Juden dann, was die Erlangung des Heimatrechts
anbelangt, denselben
– vor allem sozialen
– Ausschließungsgründen wie alle anderen
Bewerber auch.
Die Sonderstellung der »türkischen« Juden
Eine der Möglichkeiten für Juden, sich den zahlreichen »Bedrückungen« zu ent-
ziehen, war – neben der Konversion zum Christentum – die Annahme der türki-
schen (osmanischen) Staatsbürgerschaft. Eine der Paradoxien im österreichischen
Staatsbürgerschaftsrecht bestand nämlich darin, dass fremde Juden – insbesondere
aber solche, die »in der Bothmäßigkeit« der Hohen Pforte standen, d. h. osmani-
sche Untertanen waren – in vielerlei Hinsicht größere Freiheiten genossen als tole-
rierte österreichische Juden. Die Freiheiten der »türkischen Handelsleute« – meist
rechtsgesetz von 1863 (HRG 1863), RGBl. Nr. 105/63, zit. Nach : Goldemund, Staatsbürgerschafts-
recht, S. 518.
252 Vgl. Burger, Staatsbürgerschaft, S. 165.
253 Vgl. John W. Boyer : Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf (= Studien zu
Politik und Verwaltung 93) (Wien/Köln/Weimar 2010), S. 30.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271