Page - 35 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung
Jüdische Lebenserinnerungen
da sie Österreich nicht verlassen wollte : „Ich hielt mich zwar für eine Weltbürgerin,
glaubte aber doch, dorthin zu gehören, wo ich geboren war. Am meisten störte es
mich, in Palästina von Feinden umgeben zu sein und Tür an Tür mit Menschen zu
leben, denen man nicht vertrauen durfte. Sieben Monate später sollte ich in einem
Land leben, das von Hitlers Horden besetzt war.“ 9
Ihre Liebe zu Österreich hatte Wachstein die Gefahr des Antisemitismus unter-
schätzen lassen. Viktor Heinrich Dawid (geb. 1921) schreibt : „Wir waren jeden-
falls österreichische Bürger jüdischer Herkunft, assimiliert und integriert, oder so
zumindest glaubten wir.“90 Erst rückblickend kommt ihm zum Bewusstsein, dass
alle seine Freunde Juden waren. Typisch für den Umgang mit dem Antisemitis-
mus der Zwischenkriegszeit ist der Bericht von Towa Bar Niw (geb. ca. 1920),
die behauptet, nie Opfer persönlicher antisemitischer Anfeindungen geworden
zu sein und gute Beziehungen zu ihren MitschülerInnen gehabt zu haben. Denn
diese haben sich, wie die meisten WienerInnen, eben nichts dabei gedacht, wenn
sie in ihrer Anwesenheit antisemitische Bemerkungen fallen ließen.9 Der Anti-
semitismus gehörte zum jüdischen Alltag und wurde gerade deshalb nicht ernst
genommen.
Unter den in den Zwanzigerjahren Geborenen nimmt jedoch die Zahl derer zu,
die angeben, unter dem Antisemitismus in der Schule, auf der Straße und im un-
mittelbaren gesellschaftlichen Umfeld gelitten zu haben. Den Antisemitismus an den
Wiener Schulen bekamen auch jüdische UniversitätsabsolventInnen zu spüren, die
sich um Posten an Wiener Gymnasien bewarben. Stella Klein-Löw, eine säkulare So-
zialdemokratin, war 1933 schließlich froh, am zionistischen Chajes-Realgymnasium
unterkommen zu können, denn : „Alle Versuche des Stadtschulrates, mir – einer
Jüdin und Sozialistin ! – eine halbe oder volle Stelle an einer anderen Mittelschule zu
verschaffen, waren bislang gescheitert. Trotz meiner ausgezeichneten Prüfungszeug-
nisse, trotz meines mit Glanz abgelegten Probejahres bekam ich überall zu hören,
ich sei im obligaten Dreiervorschlag an zweite Stelle gereiht. Das bedeutete, dass mir
stets jemand anderer vorgezogen wurde. Das Entscheidungsrecht hatte damals der
Lehrkörper, mit dem Direktor an der Spitze, also meist Großdeutsche oder Christ-
lichsoziale.“9
Dasselbe Bild zeichnet Josef Hindels (geb. 1916) von den LehrerInnen seiner Mit-
telschule im achten Bezirk, deren Einstellung er wie folgt beschreibt : „Der Antisemi-
Wachstein, Hagenberggase 49, S. 150.
0 Viktor Heinrich Dawid, Injoest, Kt. 5, Sig. 19.
Towa Bar Niw, Injoest, Kt. 2, Sig. 6.
Klein-Löw, Erlebtes und Gedachtes, S. 103.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519