Page - 250 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Image of the Page - 250 -
Text of the Page - 250 -
0 Karin Stögner
Salome, Urbild der „Ewigen Jüdin“, Synonym für die dämonische Frau, die Femme
fatale, den Vamp : ihre Bluttat sei im Grunde aus der bewusstlosen Verzweiflung ob
ihrer eigenen „Unerlöstheit“ motiviert ; unerlöst in ihrer Weiblichkeit, hatte sie sich
nicht zum „echten“, „authentischen“, nährenden, enthaltsamen, allein auf die Ingroup
ausgerichteten Frausein geläutert ; ein Frausein, das schon nicht mehr bürgerlichen,
sondern völkischen Moral- und Idealvorstellungen entsprach. Das in Salome ange-
sprochene Frauenbild ist eine Warnung vor der Frau mit der Waffe. Gleichzeitig zur
„Feminisierung der Kultur“ wurde die „Vermännlichung des Weibes“ diagnostiziert,
ein Diskurs, der aus der Widersprüchlichkeit innerhalb der Gesellschaft resultierte.
Denn während der kapitalistische Produktionsprozess Frauen rückhaltlos außerhalb
der ihr bislang angestammten häuslichen Bereiche verwertete und so das traditionelle
Machtgefälle der Familie aufbrach, wurde nichtsdestotrotz an eben dieser Ungleich-
verteilung verstockt festgehalten. Das Schreckbild der phallischen Frau Salome, des
monströsen Mannweibs, zeigt eine neue Ordnung an, angstbesetzt und doch begehrt
meint es in gewisser Weise auch immer die Proletarierin und die Hure, die „babylo-
nische Hure“, die mit dem Bolschewismus paktiere. So beschrieb Hans Zöberlein die
gegen die faschistischen Freikorps kämpfende proletarische Frau und Kommunistin als
„Teufel in ihrem russisch-orientalischen Leib“. Die bewaffnete Frau, verzerrte Gestalt
der emanzipierten Frau, flößt als eigenständig handelndes und kämpfendes, auch revo-
lutionäres Subjekt ungeahnte Angst ein. Schließlich wurde die Revolution überhaupt
mit wilder, sexuell aggressiver Weiblichkeit, mit „revolutionärer Hysterie“ assoziiert,
ein Bild, in das all die realen und unterstellten Unmäßigkeiten der revolutionären Um-
gestaltung der Gesellschaft gepackt werden konnten. Von Olympe de Gouges über
die verweiblichten Darstellungen der Pariser Kommune bis zu den Flintenweibern
und Partisaninnen während des Ersten Weltkriegs und danach : die Imaginationen
der vom „Rausch der Revolution“ benebelten „Vermännlichten Weiber“, welche die
Grundfesten des Systems von Eigentum und Machterhalt erschütterten, waren stets
präsent. Das Flintenweib etwa war die völlig widernatürliche Frau, die die Ordnung
der Dinge ins Wanken brachte und sich vollkommen vom eingespielten nährenden
Prinzip des Mütterlichen losgelöst hatte. Der Romanschreiber Edwin Erich Dwinger
bringt dies auf den Punkt, indem er die „eurasische“ Revolutionärin Marja ausrufen
lers mit dem simplen Titel Liebe (1908), auf dem eine nackte Judith-Salome über den geköpften Holofernes-
Täufer triumphiert, ein Schreckbild der sinnlos zerstörerischen Gewalt der Weiblichkeit über die männliche
Zivilisation. (Vgl. die Abbildungen in Bram Dijkstra, Idols of Perversity, S. 378, S. 387, S. 400.)
Hans Zöberlein, Befehl des Gewissens, zitiert nach Klaus Theweleit, Männerphantasien 1. Frauen, Fluten,
Körper, Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 76.
Cf. Joan Wallach Scott, Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Right of Man, Cambridge,
Mass., London 1996, S. 101.
back to the
book Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519