Page - 264 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Michaela Raggam-Blesch
bekannte Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) zeigte sich beispielsweise
auch als unbeugsamer Kämpfer gegen die „unglückselige Idee einer Emanzipation
der Weiber“, während der „Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“ sich mit
antisemitischen Parolen gegen die Frauenbewegung zur Wehr setzte. Dabei erwies
sich jedoch der Widerstand gegen die Forderungen der Frauenbewegung als gesell-
schaftlich wesentlich weiter verbreitet und schloss auch Angehörige des liberalen La-
gers mit ein, während Antisemitismus politisch eindeutiger zu verorten war. Volkov
schließt daraus, dass Antisemitismus und Antifeminismus als antiemanzipatorische
Bewegungen gemeinsame antimodernistische Wurzeln aufwiesen, im System der Kul-
tur dieser Zeit jedoch verschiedene Funktionen erfüllten.
Antifeministische Tendenzen können anhand des Diskurses um die Einführung
des Frauenstudiums besonders anschaulich nachvollzogen werden. Hierbei bediente
man sich eines – vorgeblich von der Natur der Geschlechter abgeleiteten – Postulates
der „geistigen Inferiorität der Frau“, das durch den Münchner Anatom Theodor L.
W. Bischoff (1807–1882) im sogenannten „Hirnbeweis“ scientifiziert wurde. Ausge-
hend vom geringeren Gewicht weiblicher Gehirne postuliert Bischoff die Untaug-
lichkeit der Frau zur Pflege der Wissenschaften nach göttlicher und natürlicher Anord-
nung . Das Argument der Abnormalität weiblicher Gelehrtheit findet sich auch bei
dem Leipziger Privatdozenten Paul Möbius (1854–1907). In seinem Werk Über den
physiologischen Schwachsinn der Frau (1900) verleiht er der Befürchtung Ausdruck,
studierende Frauen würden ihre Gebärfähigkeit verlieren, was dem antifeministisch
geprägten Diskurs um das Frauenstudium ein weiteres Gewicht verlieh. Frauen wer-
den damit zu Zwitterwesen stilisiert und in einen Antagonismus zwischen Weiblich-
keit und Intellektualität gezwängt. Dies äußerte sich auch in diversen diffamierenden
zeitgenössischen Karikaturen, die weibliche Studierende als glatzköpfig und bebrillt
darstellten und der Befürchtung Ausdruck gaben, studierende Frauen würden ihre
Weiblichkeit verlieren : Stereotypien dieser Art schürten Degenerationsängste im
Zusammenhang mit den weiblichen Ausbruchsversuchen aus festgelegten Rollenbil-
Ute Frevert, „Die Innenwelt der Außenwelt. Modernitätserfahrungen von Frauen zwischen Gleichheit
und Differenz“, in : Shulamit Volkov (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne, München 1994, S. 76.
Shulamit Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne, S. 79f.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entflammten Diskussionen um das Studium von Frauen. Im
Jahre 1897 wurde die philosophische Fakultät erstmals offiziell Studentinnen zugänglich, das heftig um-
strittene Medizinstudium blieb Frauen bis zum Jahre 1900 verwehrt.
Theodor L. W. Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen, München 1872,
S. 19, S. 30.
„Züricher Studentinnen“. Gedruckte Klinicisten Bier-Zeitung, Zürich 1894, in : Margit Brunner, Sexu-
elle Belästigung und Gewalt gegen studierende Frauen als Studienbehinderung und Studienausschlussgrund
im 18., 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, unveröffentlichte Diplomarbeit, Innsbruck 1990, S. 19.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519