Page - 285 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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„Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“
der Front zu ersetzen, wurden sie nun, entsprechend ihrer Funktion als „Reservearmee“,
als Erste wieder entlassen. Zunehmend stellten rechte Organisationen, unter ihnen auch
eine kuriose Bewegung der „Männerrechtler“, in der sich Männer aller Konfessionen be-
fanden, die Errungenschaften der Frauenbewegung wieder infrage. Zugleich zeigt der
1923 stattgefundene Weltkongress jüdischer Frauen, an dem über zweihundert Frauen
aus neunzehn Ländern teilnahmen, dass Wien eine wichtige Station auf dem Weg zur
länderübergreifenden Organisation jüdischer Frauen war. Und dies zu einem Zeitpunkt,
an dem der österreichische Antisemitismus einen weiteren Höhepunkt erreichte. Im
Jänner dieses Jahres hatte der „Völkisch-antisemitische Kampfausschuß“, dem u. a. der
Antisemitenbund, der „Alldeutsche Verband“, der „Deutsche Turnerbund“ und die Na-
tionalsozialistInnen angehörten, zu einer antisemitischen Versammlung beim Wiener
Rathaus und einer anschließenden Demonstration am Ring aufgerufen, an der zwi-
schen 50.000 und 120.000 Personen teilnahmen. Und bei einer von ZionistInnen
organisierten Kundgebung im Wiener Rathaus im März 1923, in der gegen die Juden-
hetze der Regierung und die antisemitischen Gewalttaten protestiert wurde, mussten
die VersammlungsteilnehmerInnen das Rathaus im Schutz von 3.000 Polizisten durch
den Hinterausgang verlassen, weil sich auf dem Rathausplatz Tausende mit Knüppeln
und Totschlägern bewaffnete AntisemitInnen versammelt hatten.
Aufgrund antisemitischer Ausschreitungen war bis zum letzten Moment unklar, ob
die Tagung in Wien tatsächlich stattfinden konnte, und Rebekkah Kohut (1864–1951),
die amerikanische Präsidentin der Konferenz, erzählte in einem Interview mit der
Neuen Freien Presse, dass sie sich aufgrund der Zeitungsberichte bei ihrer Ankunft ge-
fürchtet habe, allein vom Bahnhof in ihr Hotel zu gehen. Die aus Ungarn stammende
Rebekkah Kohut war eine der leitenden Repräsentantinnen des „National Council of
Jewish Women“, das 1893 im Rahmen des „Jewish Women’s Congress“ auf der Welt-
ausstellung in Chicago gegründet worden war. Viele der dort engagierten Frauen waren
Einwanderinnen aus Europa, die während und nach dem Ersten Weltkrieg die jüdi-
schen Gemeinden in Europa unterstützten. 9 Für österreichische Teilnehmerinnen an
Elisabeth Malleier, „Der ,Bund für Männerrechte‘ – die Bewegung der ,Männerrechtler‘ im Wien der
Zwischenkriegszeit“, in : Wiener Geschichtsblätter. Verein für Geschichte der Stadt Wien (Hg.), Jg. 58,
Heft 3, Wien 1998, S. 208–233.
Albert Lichtblau, Antisemitismus – Rahmenbedingungen und Wirkungen auf das Zusammenleben
von Juden und Nichtjuden, in : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933,
Emmerich Talós, Herbert Dachs, Ernst Hanisch, Anton Staudinger (Hg.), Wien 1995, S. 454–471,
S. 455.
Ebd., S. 469.
Die Veranstaltung einer Weltkonferenz jüdischer Frauen war bereits 1914 auf einer icW-Tagung in Rom
diskutiert worden. Ausführlich zur Vorgeschichte der Konferenz, zu den Aktivitäten des ncJW in Europa
und zu Kohuts Eindrücken vom Kongress siehe : Malleier, Forschungsbericht 201, S. 160ff.; einen Über-
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519