Page - 330 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Hanno Loewy
literarischen Äußerungsform, die ihn bis zu seinem Weggang aus Wien 1926 nun
nicht mehr nur als Broterwerb, sondern in aller Ernsthaftigkeit beschäftigen wird : das
Feuilleton.
„Bist du ein Fremdling, so tust du gut daran, weiterzuwandern, um Distanz zu be-
halten. Denn das Gemüt ist klebrig, und leicht entsteht die Lüge einer Scheinheimat.
Wandere weiter und bleibe fremd.“ Auch Balázs’ Romanhelden, sie sind meist unter-
wegs anzutreffen, irgendwohin und irgendwoher. „Uns ist eine Seele geboren, die hun-
gert. Wir sind ausgewandert. […] Wir müssen ein neues, anderes Leben beginnen“, 9
heißt es in dem Roman, den Balázs nun, „ausgewandert“ und unfreiwillig mit einem
neuen Leben konfrontiert, in Wien endlich fertigstellt. Der Weg, die Reise, die Balázs’
Helden zu sich selbst zurücklegen müssen, führt durch die Fremde. Aber es scheint zu-
weilen, diese Fremde sei ihr wirkliches Zuhause, der Weg selbst das neue Leben. „Man
spricht von Weg und Ziel und Schicksal. Von den letzten Dingen. Aber gerade weil
man in der Tiefe sich berührt, braucht man nicht an der ganzen Oberfläche aneinander
zu kleben.“ 0 Festzukleben, aneinanderzuhaften, nicht loszukommen, in diese Angst
verwandelt sich nun Balázs’ Schmerz um die Trennung. „Negative Rebellen“ seien sie
alle, Auswanderer aus Prinzip. „Sie konnten und wollten in dieser bürgerlichen Gesell-
schaft nicht mehr leben. Aber anstatt gegen sie zu kämpfen, zogen sie aus ihr fort. Auf
die Landstraße. Flüchtige Vagabunden des Geistes sind sie geworden.“
Zwischen Märchen und Film
Auch seine Feuilletons beginnt Balázs „unterwegs“ zu schreiben. Freilich nicht so wie
Franz Hessel, der Flaneur in Berlin, oder Arnold Höllriegel in Wien, nicht als Reisen-
der oder Umherstreifender durch Nähe und Ferne. Vom „Schicksal“ umhergeworfen,
fliegen ihm die Gegenstände seines Schreibens, aber auch die Genres förmlich zu,
solange er nur die Augen offenhält und zu jedem Experiment der Sinne bereit ist.
1921 erscheinen Balázs’ Märchen in deutscher Sprache, und man beginnt sich
für ihn in Wien auch als Märchenautor zu interessieren. Im September lässt Ge-
nia Schwarzwald ihn fragen, ob er zwanzig chinesische Märchen schreiben könnte,
Béla Balázs, Der Phantasie-Reiseführer. Das ist ein Baedeker der Seele für Sommerfrischler, Berlin, Wien,
Leipzig 1925, S. 125.
Béla Balázs, Unmögliche Menschen, Frankfurt am Main 1930, S. 144. Ein Teil des Romans erschien
zuerst auf Ungarisch unter dem Titel Isten tenyerén (In Gottes Hand), Koloszvár (Klausenburg ; heute :
Cluj-Napoca) : Lapkiadó Rt., 1921.
0 Ebd., S. 109.
Ebd., S. 420.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519