Page - 336 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Hanno Loewy
Balázs’ „Anthropologie“ ist nicht frei von Aporien. Aber das hätte ihn selbst daran am
wenigsten gestört.
„Revolutionär“ waren diese Texte nicht, wenn Balázs auch in jenem Zwischenreich
von Seelenwirklichkeit und Empirie aus seinem politischen Standpunkt keinen Hehl
machte, so wenn er nationalistische Ideologien karikiert.
Doch selbst das Geheimnis der Weihnachtsbäume seiner Kindheit erschien ihm
keineswegs zu gering und unbedeutend, um ihm nicht eine Einsicht über das Wesen
unseres Wunschdenkens abzugewinnen. Dimensionen der Existenz, für die Lukács
seit der Revolution nur noch Verachtung übrighatte. Die Mystik der Erlösung hatte
für ihn einer Wissenschaft von der Erlösung Platz gemacht. (Das machte aus Lukács’
Spiritualität der Jahre vor 1919 freilich nur eine Mystik der Geschichte.)
Balázs mochte die Magie des Alltags, ihren sinnlichen Genuss und ihre Heraus-
forderung für unser Denken, keineswegs der revolutionären Utopie opfern. Schon im
Sonntagskreis waren Lukács und er über dieser Frage aneinandergeraten, wie Anna Lesz-
nai sich später erinnerte. Lukács’ Hoffnung auf eine kommende Erlösung im Unter-
gang der Dinge, die, mit sich selbst identisch werdend, aufhören sollen zu sein, war, so
fand sie, „eine schauderhafte Vorstellung […]. Wenn Erlösung den Untergang des zu
Erlösenden fordert, ist sie Mord.“ Balázs hätte ihr beigestanden : „Die Magie bleibt
bestehen.“ Ein großes Wort, aber für Balázs meinte es vor allem den Zauber einer sinn-
lichen Wahrnehmung, die immer ein Rätsel, eine Projektion unserer Wünsche und eine
Sehnsucht nach Verschmelzung bleiben wird – unstillbar und immer neue Bilder und
Gleichnisse generierend. Und dies nicht zuletzt, weil die Welt aus mehr bestehen muss,
als unsere Sinne aufzunehmen imstande sind. Empirie, das kann in einer solchen Welt
nur ein halbblindes Sehen, ein halbtaubes Hören, ein sehnsüchtiges Tasten sein.
In einem seiner Feuilletons für Der Tag hat Balázs über die Grenzen der Wahr-
nehmung und ihre Überschreitung in der Metapher nachgedacht. „Wozu brauchen
die Engel Flügel ?“, fragt er und beschreibt jenen Prozess, der eine Metapher aus dem
„Jenseits“ unserer sinnlichen Wirklichkeit, dem „Übersinnlichen“, jenem Bereich der
Natur, den wir mit unseren Sinnesorganen nicht zu perzipieren vermögen, entste-
hen ließe. Unseren Wahrnehmungsorganen wohnt, so Balázs, eine doppelte Funktion
bei, „gewisse Eindrücke aufzunehmen und uns gegen andere zu schützen“. Jene
Welt jenseits unserer Sinne würde uns gleichwohl berühren, ohne dass wir es merken.
„Diese Dinge liegen gleichsam zwischen unseren Organen wie die Nase zwischen
unseren Augen, die wir darum auch nicht sehen. Außer wir schielen ! Ja, gibt es nicht
so ein Schielen der Sinne, mit dem man das Dazwischenliegende doch irgendwie
Anna Lesznai, Spätherbst in Eden, Karlsruhe 1965, S. 610.
Béla Balázs, „Wozu brauchen die Engel Flügel ?“, in : Der Tag, 25.4.1925, S. 5.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519